Eine respektable Leistung der europäischen Nachbarschaftspolitik: Ein Bürgerkrieg in der Ukraine und eine neue weltpolitische Konfrontation

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Wer je daran geglaubt hat, Handel und Wandel hätten mit Gewalt und Erpressung nichts zu tun, kapitalistische Geschäftemacherei wäre ein Sachzwang zu friedlicher Verständigung der Nationen, oder was dergleichen Lobsprüche auf die wunderbare Einheit von Markt und Zivilgesellschaft mehr sind, der dürfte durch die Ukraine-Politik der deutschen Regierung nachdrücklich eines Besseren belehrt werden.

Am Anfang hat doch nur eine Unterschrift gefehlt unter einem Vertrag, von dem die Europäer behaupten, das er für alle Seiten nur das Beste gewollt hat. Jetzt zerlegt sich die Ukraine in einem Bürgerkrieg. Und Nato und Russland lassen Truppen aufmarschieren. Die Öffentlichkeit türmt Beweise dafür auf, wie unerträglich das russische Benehmen ist, überholt die Politik bei weitem mit ihren Imperativen, was „wir“ keinesfalls dulden können. Andererseits fragt sich dieselbe Öffentlichkeit mit Sorge, wieso nur das Unmögliche auf einmal wieder möglich erscheint, dass mitten in Europa ein Krieg ausbricht. Eine solche Lage bricht aber nicht einfach herein, sie wird hergestellt.

Der Reihe nach: Im November letzten Jahres verweigert der ukrainische Präsident Janukowitsch seine Unterschrift unter den Assoziationsvertrag mit der EU. Er versucht noch einmal, mit der EU um die Bedingungen zu handeln, weil sein Staatswesen die im Vertrag niedergelegten Forderungen der EU schlicht nicht aushält. Verlangt wird immerhin von dieser Regierung, einer weitflächig verarmten Bevölkerung die Subvention der Energiepreise zu streichen; des Weiteren sollen Löhne und Renten gekürzt werden. Die Industrieproduktion soll sich auf die Normen und Standards der EU umstellen, was allein mit 165 Milliarden Euro beziffert wird. Janukowitsch will den Staatsbankrott fürs erste abwenden und besorgt sich Wirtschaftshilfe in Moskau. Er fordert die Hauptmächte, die das Land einer Zerreißprobe aussetzen, dazu auf, sich an einen Tisch zu setzen und sich zu einigen. Damit ist er für die EU schlagartig untragbar. Aus dem Stand schalten die europäischen Verhandlungspartner um: Anstelle einer legitimen Regierung, mit der man gerade noch unter dem Titel der europäischen Nachbarschaft übereinkommen wollte, sehen sie in Kiew nurmehr einen Haufen korrupter Figuren am Werk, ein russenhöriges Regime, mit einem Präsidenten an der Spitze, der den legitimen Willen des ukrainischen Volks, das nichts anderes als nach Europa will, mit Füßen tritt. Dem Präsidenten, der das Verbrechen begangen hat, seine Zustimmung zu besagtem Vertrag an zusätzliche Bedingungen zu knüpfen und dann die EU auch noch dazu bringen will, über die Zukunft der Ukraine mit Russland zu verhandeln, wird die Anerkennung entzogen – und zwar diplomatisch, praktisch und militant: Die EU feuert den Protest an, der sich auf dem Maidan in Kiew aufbaut. Der deutsche Außenminister demonstriert durch seine Anwesenheit vor Ort, dass der Aufstand mit seiner Forderung nach Rücktritt der Regierung unbedingt im Recht ist. Gleichzeitig wird die Regierung zum Gewaltverzicht gegenüber den immer militanteren „friedlichen Demonstranten“ angehalten.

Das sind interessante Umgangsformen in einem Staatenverkehr, der nach offizieller Lesart nur dem Wohle aller Beteiligten dienen sollte. Wenn der Chef der anzuschließenden Nation seine Unterschrift nicht freiwillig unter das Vertragswerk setzt, beschließt die europäische Nachbarschaft kurzerhand, dann eben mit Gewalt dafür zu sorgen, dass er abgesetzt wird. Damit wird deutlich, dass es bei den Verhandlungen um das Assoziierungsabkommen dann auch schon um etwas anderes gegangen sein wird als um eine Verständigung über die beiderseitigen Interessen. Offensichtlich hat Europa sich das Recht auf Unterwerfung der anderen Seite zugesprochen und exekutiert das. Das wird dann aber auch der Kern des angepeilten Abkommens sein: Mit ihm soll dieses Staatswesen unter europäische Kontrolle gebracht, dem eigenen Besitzstand zugeschlagen und von Russlands Interessen an seinem Nahen Ausland abgeschnitten werden. Die Politik der EU hat sich als so ziemlich das Gegenteil von dem herausgestellt, was die EU mit ihrem verlogenen Selbstbild als „Zone von Stabilität, Wohlstand und Zusammenarbeit“ so gerne propagiert, nämlich als reichlich gewalttätige Angelegenheit: Wenn sich eine Regierung nicht umstandslos als Marionettenregierung zur Umsetzung der Beschlüsse, die in Brüssel oder Berlin gefallen sind, zur Verfügung stellt, dann erklärt sich Europa zur Schutzmacht des ukrainischen Volks, dem das Recht auf „Selbstbestimmung“ zukommt, und betreibt den Umsturz.

Auch im Hinblick auf Russland legt Europa ein ziemlich brachiales Verhalten an den Tag. Schließlich bürgt die Regierung, die abgesägt werden soll, auch für die Rücksichtnahme auf die Beziehungen, die Russland mit der Ukraine unterhält. Und es ist gar kein Geheimnis, dass mit dem Umsturz in Kiew die exklusive – also Russland ausschließende – Zuständigkeit der EU für die Ukraine sichergestellt werden soll. Damit eskaliert die EU ihr Vorgehen gegenüber Russland. Einsprüche gegen die Assoziierung, die mit dem Hinweis auf die vitalen russischen Interessen an der Ukraine begründet werden, die dabei unter die Räder kommen, werden schon die ganze Zeit demonstrativ überhört und praktisch übergangen.

Steinmeier und Genossen hatten es schon weit gebracht – sogar was die Zustimmung Russlands zu einem Machtwechsel in Kiew anbelangt: Nachdem die Regierung durch den Aufstand und die Besetzung der Hauptstadt unhaltbar gemacht worden ist, handeln sie mit ihr die Modalitäten ihrer Abdankung aus. Im Steinmeier-Abkommen stimmt Janukowitsch seinem Rücktritt zu und einigt sich mit der Opposition darauf, über den Weg von Neuwahlen eine legitime Regierung herzustellen – unter Federführung der Deutschen. Die legen darauf Wert, Russland, das die neue Regierung genehmigen soll, zur Zustimmung zu bewegen, dadurch, dass eine geordnete Übergabe der Macht geplant ist. Zudem sollen auch die inneren Verhältnisse unter Kontrolle bleiben, auch Janukowitschs Machtbasis und die Vertreter der Interessen der Ostukraine sollen daran ordnungsgemäß beteiligt werden, damit sie sich darin aufgehoben sehen und darein fügen können. Nachdem die EU alles für den Umsturz getan hat, will sie unliebsame destabilisierende Wirkungen im Land und unnötige Kollisionen mit Russland vermeiden. Russland hat sich unterdessen durch die Macht des Faktischen davon überzeugen lassen, dass sich Janukowitsch nicht halten lässt, und lässt sich zähneknirschend auf dieses Szenario ein. Der „Übergangsregierung“ verweigert es zwar jede Anerkennung, einem geordneten Machtwechsel, bei dem am Ende eine gewählte Regierung steht, erteilt es aber keine Absage.

Diesen maßgeblich deutschen Versuch, den Machtwechsel in einer Form festzuzurren, in der er allseits und letztlich eben auch für die Russen zustimmungsfähig ist, hat dann allerdings Amerika torpediert. Es übergeht alle europäischen Berechnungen und durchkreuzt die Steinmeier-Diplomatie, indem der langjährig aufgebaute Einfluss Amerikas in der Ukraine dazu genutzt wird, das Abkommen platzen zu lassen. Die Opposition wird zum Durchmarsch ermuntert und mit den entsprechenden Mitteln dazu befähigt. Der Präsident wird samt einem Teil seiner parlamentarischen Mehrheit verjagt, das Parlament unter Belagerung durch die Maidan-Mannschaften dazu genötigt, dem Umsturz zu akklamieren. Damit sind Übergangspräsident Jazenjuk und seine Timoschenko-Partei an die Macht geputscht. Die kurze Lebensdauer des Steinmeier-Abkommens, die saure Miene, die sein Namensgeber dazu macht, dokumentieren, dass die offizielle Lesart von der Einmütigkeit des Westens die Sache auch nicht so ganz trifft; die Behandlung des Falls durch Amerika folgt mehr dem Motto von Frau Nuland, der Vertreterin des US-Außenministeriums für Europa und Eurasien: „Fuck the EU“.

Wenn Amerika die Mannschaft anerkennt, ist ja wohl selbstverständlich, dass das die legitime Regierung ist. Und der Rest der Welt hat dem zuzustimmen. Die Anerkennung der an die Macht geputschten Mannschaft als legitime Regierung der Ukraine wird von den USA zur unhintergehbaren Bedingung jeglicher Diplomatie erhoben und damit die auf Russland gerichtete Euro-Diplomatie ausgehebelt: Den europäischen Anlauf, Russland wieder in einen diplomatischen Prozess hineinzuziehen, unterbindet Außenminister Kerry, indem er zum Krisentreffen den neuen ukrainischen Außenminister einlädt und Lawrow damit konfrontiert – kein Dialog, ohne dass Russland die von Amerika eigenmächtig hergestellte neue Lage in der Ukraine und den damit vollzogenen Verlust, die Verletzung seiner Interessen, (hier Komma) förmlich anerkennt.

Unterdessen machen sich die Neuen an der Macht an die Arbeit. Sie haben alle Hände voll zu tun mit der Festigung der ukrainischen Demokratie. In den Ministerien, in Polizei, Justiz, Funk und Fernsehen beginnt ein energisches Aufräumen gegen alles, was einer verkehrten Affinität zur Vorgängerregierung und zu Russland verdächtigt wird. Russisch als zweite Amtssprache wird abgeschafft, der Frontmann der Swoboda-Partei will dem friedliebenden ukrainischen Volk schnell „den freien Kauf und Besitz von blanken und Schusswaffen“ erlauben. Die freie Meinungsbildung im Land wird durch das Verbot der Übertragung einiger TV-Sender, speziell russischer, (hier Komma) aufgemöbelt. Und der neue Verteidigungsminister macht kein Geheimnis aus seiner Überzeugung, dass er den Vertrag über den russischen Flottenstützpunkt für eine unerträgliche Schmach hält, die schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen ist.

Russland hält das alles letztendlich nicht mehr für hinnehmbar und schließt sich die Krim an. Damit ist es dann allerdings für den Westen endgültig zum Störfall ihrer Weltordnung geworden.

Mehr zu der Wiederauflage des Ost-West-Gegensatzes, der angeblich dem vergangenen Jahrhundert angehört, im nächsten Beitrag des Gegenstandpunkt in einer Woche:

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