Zehn Jahre Senkung der Arbeitskosten erfahren ihre systemgemäße Vollendung: Der allgemeine Mindestlohn – die gesetzliche Normalisierung des Niedriglohns

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Anfang Mai hat sich die Analyse des Gegenstandpunkt mit der Bilanz von zwei Jahrzehnten Arbeitsmarktpolitik befasst. Die Politik beglückwünscht sich durchaus dazu, durch das Aufbrechen sogenannter „verkrusteter Strukturen“ jede Menge Arbeitsplätze geschaffen zu haben. Auf der anderen Seite muss sie feststellen, dass ein zunehmender Teil des Arbeitsvolkes von den Billiglöhnen nicht leben kann und ihr das – wo sie durch Aufstocken beispringt – auf Dauer zu teuer kommt. Die Selbstkritik der Politik diesmal: „Der Mindestlohn wird kommen.“ Dazu heute die Analyse des Gegenstandpunkts:

Zehn Jahre Senkung der Arbeitskosten erfahren ihre systemgemäße Vollendung:
Der allgemeine Mindestlohn – die gesetzliche Normalisierung des Niedriglohns

Was gestern noch als ordnungsgemäßer Gebrauch staatlicher Regelungen begrüßt wurde: nämlich die Ermöglichung eines umfassenden Billiglohnsektors, erfährt eine radikale Umdeutung. Der böse Vorwurf des unternehmerischen „Missbrauchs“ gutgemeinter politischer Beschäftigungsmaßnahmen wird regierungsamtlicher Standpunkt. Exemplarisch wird dies an den Aufstockern festgemacht: Die Unternehmen zahlen Löhne, die unterhalb des Existenzminimums liegen; der Staat sieht sich genötigt, aufzustocken. Und das Urteil lautet: Die Geschäftsleute machen Profit auf Kosten des Staates. Das Gute am Billiglohn ist, dass er massenhaft Menschen in Arbeit gebracht hat, und trotzdem liegen sie dem Staat auf der Tasche. Neben der verlorengegangenen Existenzsicherung eines nicht unerheblichen Teils seiner Arbeitsbevölkerung entdeckt der Staat sich als den Leidtragenden des konstatierten Erfolgs. Das verlangt nach einer radikalen Lösung, die den Nutzen des Niedriglohns nicht revidiert, aber den Schaden endgültig begrenzt, den er anrichtet.

Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Dienstleistung, auf die die deutsche Sozialdemokratie so stolz ist, und mit der sie die nationale Arbeiterschaft beglücken wird, ist die passgenaue Antwort auf das doppelte Eingeständnis, wieweit es die Politik gebracht hat mit ihrem Programm, dass sozial ist, was Arbeit schafft. Die neue Regierung hat eine Zahl zu bieten, in der sie alle Erfordernisse aufgehoben sieht. Die für die Rentabilität der Arbeit erforderliche Verarmung wird mit dem Betrag von 8 Euro 50 anerkannt, und der politisch unerwünschte Schaden des Lohnverfalls durch eine gesetzliche Lohn-Barriere nach unten abgedichtet. Die Unternehmer müssen das Mindeste, was ein Arbeiter braucht, auch bezahlen und dürfen es nicht mehr auf den Staat abwälzen. Die Staatsgewalt offenbart, dass sie die Nutznießer der Verarmung dazu zwingen muss, weil deren Geschäftsinteresse den Standpunkt nicht kennt: Rücksichtnahme auf die bescheidenste aller Bedingungen ihrer Arbeitskräfte überhaupt – um arbeiten zu können müssen sie auch imstande sein leben zu können. Das bisschen müsste sich das nationale Kapital doch wohl leisten können, wo es doch gerade so umfang- und erfolgreich deren Arbeitskraft nutzt.

Im Beschluss, den Kapitalisten die Kosten für die Lebensnotwendigkeiten ihrer Beschäftigten aufzuzwingen, berücksichtigt die Politik selbstverständlich auch ihr Interesse an der Rentabilität der Arbeit. Schon in der Vorgabe des Koalitionsvertrages sorgt die Regierung dafür, dass der Mindestlohn die Arbeitgeber nicht wirklich übermäßig trifft: mit einer dreijährigen Übergangsfrist und einer klaren Öffnungsklausel: „Wir werden das Gesetz im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Branchen, in denen der Mindestlohn wirksam wird, erarbeiten und mögliche Probleme bei der Umsetzung berücksichtigen“.

So wird die verlorengegangene „Balance“ wieder hergestellt, und mit 8 Euro 50 pro Stunde ab 2017 der „angemessene Mindestschutz sichergestellt“. Dafür greift der Staat zur schärfsten Waffe, die eine Rechtsgewalt kennt, zu einer für alle und überall gültigen Gesetzesvorschrift. Der Mindestlohn ist damit keine Übergangslösung, sondern eine feste Einrichtung, deren Höhe periodisch anzupassen ist. Bis dahin und nicht weiter.

Also bis dahin! Bis dahin geht die Senkung der Löhne völlig in Ordnung, und der abfällig so genannte Niedriglohnsektor hat nicht mehr den Charakter einer vorübergehenden, krisenbedingten Ausnahme vom eigentlichen ersten Arbeitsmarkt. Dieser Bereich der Lohnhierarchie ist mit dem Mindestlohn rechtlich abgesicherte Normalität. Gerade mit der flächendeckenden gesetzlichen Beschränkung nach unten ist das flächendeckende Lohnsenken sanktioniert und abgesegnet.

Die Betroffenen dürfen das als Dienstleistung an ihrer Reproduktion begrüßen. Ihnen wird amtlich definiert, was sie – vorausgesetzt sie werden dauerhaft 40 Stunden pro Woche benutzt – zum Leben notwendig brauchen. Das treffend so genannte Existenzminimum ist genau die Geldsumme, die das Nötigste ihrer Existenz bestimmt. Ab 2017 hat davon ein Arbeiter in Deutschland zu leben und damit kann er es auch.

Die Aufstocker, die zukünftig die 8,50 bekommen, haben zwar nicht mehr Geld in der Tasche, dafür wird die aber vollständig vom Arbeitgeber gefüllt. Der Staat spart sich so die Zuzahlung, und dem Lohnempfänger die Erniedrigung, als Bittsteller beim Amt vorstellig werden zu müssen. Die mit dem Mindestlohn Geschützten müssen sich nicht mehr der Zugehörigkeit zu einem Prekariat schämen, das von der Allgemeinheit mit Almosen gesponsert werden muss, sondern sie können als ordentlicher Teil des Arbeitsvolks an der Wirtschaftsgemeinschaft teilhaben.

Auf die Durchsetzung des allgemeinen Mindestlohns verpflichtet der Koalitionsvertrag wiederum die beiden Tarifparteien, deren schwächelnde Sozialpartnerschaft er als Ursache der ganzen Misere definierte. Die sollen den Mindestlohn verantworten und sich gefälligst auf ihn einigen. Zunächst haben sich sämtliche existierenden Arbeitsverträge an dieser Grenze neu auszurichten, alle neu zu vereinbarenden Tarifverträge müssen bis Ende 2016 die 8,50 mindestens einhalten, sonst gilt der staatliche Mindestlohn per Gesetz. (Die Fleischer, die sich ewig nicht einigen konnten, nehmen das als Gunst der Stunde und genehmigen sich bis 2017 einen deutlich niedrigeren unteren Tariflohn.) Ab 2017 müssen dann die beiden Tarifparteien selbständig die zukünftige Höhe des Mindestlohns in der paritätisch zu besetzenden Mindestlohnkommission aushandeln.

Keine Frage ist, wen die Politik da an den Verhandlungstisch zwingt: Weil die Gewerkschaften nicht in der Lage sind, die Existenzsicherheit ihrer Mitglieder zu erstreiten, macht der Staat der mangelnden Verhandlungsbereitschaft der Arbeitgeberseite per Gesetzesvorschrift Beine. Damit anerkennt er das Anliegen der Gewerkschaft auf Mitsprache beim Lohn und schenkt ihr die Rechtsposition einer Verhandlungspartei.

Was die zukünftige Anpassung der Höhe des allgemeinen Mindestlohns betrifft, stellt der Koalitionsvertrag auch schon klar: In der Kommission sitzen die „Spitzenorganisationen der Tarifparteien“ gleichberechtigt, ganz ohne Bezug auf ihren Organisationsgrad, ihre Mitgliederzahl oder ihre sonst wie selbständig errungene Stärke. Ihre Zuständigkeit ist allgemein, getrennt von jeder räumlichen oder branchenbezogenen Tarifgliederung, und flächendeckend, sie erstreckt sich auch auf alle „weiße Flecken in der Tariflandschaft“. Ihre „autonome“ Entscheidungsbefähigung in Sachen Mindestlohn speist sich somit einzig und allein aus der staatlichen angeordneten Berechtigung dazu. Damit ist in dieser neuen Spitzenkommission die Überlegenheit der Arbeitgeber und die Schwäche der Gewerkschaft nach allen Regeln der politischen Kunst zusammengespannt und zur Erledigung des staatlichen Auftrags verpflichtet. Die sollen ganz autonom den Mindestlohn ausbalancieren, der nur durch staatliche Vorschrift zustande kommt. Und genau so ist in dieser autonomen Institution der Widerspruch kapitalistischer Lohnarbeit runderneuert: Die ins Recht gesetzte Forderung nach der bescheidenen Summe eines Existenzminimums zählt nur so viel, wie das staatliche Interesse hergibt an einem nationalen Lohnniveau, das die Mannschaft am Leben erhält.