Auszug aus dem Jahresbrief 2011 des israelischen Friedensaktivisten Reuven Moskovitz:
Liebe Freundinnen und Freunde,
Diejenigen, die mein altes Logo kennen, werden sich über mein neues Logo wundern. Dieser Psalm ist sehr zutreffend für die gegenwärtige Situation in der Welt und in Israel. Leider sind die Machthaber unfähig einzusehen, dass sie nicht nur leichtfertig Millionen Menschen zum Sterben verurteilen, sondern dass sie selbst auch aus dem Amt gejagt werden können. Der einzige Satz dieses Psalms, der meiner Meinung nach nicht zutreffend ist, ist der Schluss. Gott greift nicht ein und versucht nicht, die Welt zu regieren. In meinem Buch schreibe ich: „Wenn es Gott gibt, ist er nicht der Gott der jüdischen, christlichen oder moslemischen Fundamentalisten, sondern der Gott, der im Psalm 115, 15-16, beschrieben wird: „Ihr seid die Gesegneten des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Der Himmel ist der Himmel des Herrn, aber die Erde hat er den Menschenkindern gegeben“. Abgesehen von Naturkatastrophen, entscheiden wir Menschen oder diejenigen, die sich anmaßen, die Menschen zu führen, was auf dieser Erde geschieht. In meiner Vorstellung zeigt sich die Größe Gottes in seiner Bescheidenheit und Verborgenheit.
In einer quälenden Hoffnungslosigkeit, jedoch ohne den Glauben zu verlieren, der mich weitertreibt gegen die großen Gefahren, die uns und die Gegend gefährden, aufzuschreien, schreibe ich diese Zeilen drei Jahre nach der unsäglichen Aktion „gegossenes Blei“. Diese Aktion war nichts anders als Glied einer Kette verbrecherischer Aktionen, die ziemlich lange vor der Errichtung des Staates Israel angefangen haben. In ihrem Buch „Nation und Tod“ stellt Idith Zertal mit einer genialen Analyse die manipulierte Entwicklung und Verstärkung des ,Opfer-Mythos‘ des Zionismus dar. Mit dieser Manipulation, die nach dem zweiten Weltkrieg anfing, wurden die Shoah und Auschwitz von einer schrecklichen Katastrophe zu einem Kult im Dienst einer Politik, die mehr und mehr neue Katastrophen verursacht, mutiert. Meiner Meinung nach sind Mythen kanonisierte Lügen, die sich im Bewusstsein von Menschen festsetzen und sie dann als historische Wirklichkeit betrachten. Solche Mythen begleiteten den Staat Israel vor und insbesondere nach seiner Gründung. Ein in Israel und Deutschland fast vergessener Historiker Israels, Simha Flapan, schreibt in seinem Buch „Die Errichtung Israels“ über acht Mythen, die eigentlich hauptsächlich als typisch diplomatischen und politischen Lug und Trug gelten. Auch Hannah Arendt, eine überzeugte Zionistin doch auch kritische Philosophin, verfolgte trotz ihrer Begeisterung für das entstehende Israel mit großer Sorge die Gefahren für die Zukunft Israels – Ergebnis dieser Mythen. Als ich mich entschieden habe, nach Deutschland zu kommen, habe ich sehr vorsichtig versucht – auch beschrieben in meinen zahlreichen Briefen – diese Mythen zu entlarven. Die tragische Fortsetzung von Kriegen, Zerstörungen und wachsendem Hass hat nicht nur mit Antisemitismus oder mit dem Versuch, Israel zu zerstören, zu tun. Es ist eine Tragödie von zwei Völkern, die fälschlicherweise überzeugt sind, alleine und einzig im Recht zu sein.
Die Weichen, die den Nahen Osten in einen Wirbel von Gewalt, Blutvergießen und Zerstörung führten, sind schon von Ben Gurion vor mehr als 60 Jahren (in einer Rede im August 1947) gestellt worden: „Die Weisheit Israels ist die Weisheit, wie Krieg zu führen ist und nichts anderes“.
Ein paar Jahre danach schreibt der zweite Ministerpräsident: „Ich habe gelernt, dass der israelische Staat in unserer Generation ohne Betrug und abenteuerlichen Geist nicht regiert werden kann. Dies sind historische Fakten, die nicht zu verändern sind. Es mag sein, dass die Geschichte die Betrugsstrategien bestätigen wird, genauso wie die abenteuerlichen Aktionen (er meint damit, die blutigen Vergeltungsaktionen). Was ich, Moshe Sharet, weiß, ist, dass ich nicht fähig bin, so zu handeln, deshalb bin ich auch nicht fähig, diesen Staat zu regieren.“ (Moshe Sharets Tagebücher)
Diese Tatsachen werden in diesen Tagen durch hauptsächlich drei Themen bestätigt:
1. Außer Moshe Sharet und Rabbin haben alle israelischen Regierenden die Entstehung eines palästinensischen Staates nicht ernst genommen. Es wurde immer von Frieden geredet, ohne einen einzigen Schritt gemacht zu haben, diesen zu erreichen.
2. Die Politik Ben Gurions hat nie die Teilung Palästinas zum Ziel gehabt, und durch Dutzende von Kriegen nur versucht, die Grenzen Israels auszuweiten, alles unter dem Feigenblatt von Sicherheitsbedürfnissen.
3. Dieselbe Politik hat zu der ethnischen Säuberung geführt und die meisten Palästinenser zu einem heimatlosen Volk von Flüchtlingen, Entrechteten und Dämonisierten gemacht. Dämonisierung deshalb, weil Ben Gurion alle Palästinenser als hoffende Vollstrecker von Hitlers‘ Plan, Juden auszurotten, darstellte.
Israel ist nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern eine Gefahr für den regionalen Frieden und vermutlich für den Weltfrieden. Ein Versuch, in Deutschland zu einer Aktion aufzurufen „Keine weitere Lieferung von U-Booten nach Israel, solange Israel nicht die verschiedene Beschlüsse, die zu einen funktionieren Frieden im Nahen Osten beitragen, implementiert“, könnte die Gefahr noch abwenden.
Die gegenwärtigen Ereignisse in Israel zeigen, dass die israelische Politik nicht nur zur trostlosen Lage des palästinensischen Volkes geführt hat, sondern auch die israelische Demokratie – so das oberste Gericht – und den friedlichen Zusammenhalt der jüdischen Gesellschaft gefährdet.
Es geht nicht nur um den Angriff auf die Entscheidungen des obersten Gerichtes, sondern ebenso gegenüber der israelischen Armee, die beauftragt ist, ein Verdikt des obersten Gerichtes zu implementieren und manche illegale Siedlungen, gebaut auf palästinensischen Privatgrundstücken, zu räumen. Als Reaktion darauf haben im letzen Monat hunderte Siedler – neben dem Anzünden etlicher Moscheen und dem Zerstören palästinensischer parkender und durchfahrender Autos – militärische Einrichtungen angegriffen. Letzteres ist eine Folge der Politik des Wegsehens und Nicht-Handelns der existierenden Regierung, die eine Koalition von 85 Prozent der Abgeordneten aus faschistisch klerikalen Gruppen stellt.
Außerdem wird die Pressefreiheit durch ein neues Gesetz stark reduziert: Für Journalisten oder Zeitungen, die den Staat oder Staatsbedienstete durch ihre Artikel ,angeblich‘ verleumden, werden Strafen drastisch erhöht. Journalisten werden es in Zukunft vermeiden, noch kritische Artikel zu schreiben.
Auch humanistische Gruppen sind Ziel der Ent-Demokratisierung: Die für ihre Arbeit erhaltenen Spenden von Regierungen sind bis jetzt steuerfrei. Ein neues Gesetz soll entscheiden, dass regierungskritische Stiftungen mit 45 Prozent des Spendenbetrags besteuert werden.
Der steigende Einfluss der klerikalen Macht äußert sich in dem Versuch, uns eine strenge Trennung zwischen Männern und Frauen aufzuzwingen. In vielen Bussen hat man angeordnet, dass Frauen im hinteren Teil vom Bus auf den unbequemen Plätzen sitzen müssen.
Ein jüdischer Spruch: „Eine gelungene Dummheit bleibt eine Dummheit „. Diese Dummheit, auch wenn sie noch so erfolgreich ist, treibt uns und den Nahen Osten in den Abgrund. Auch wenn es in unseren Zeiten pathetisch scheint, Cassandra oder Prophet zu spielen (was ich sicherlich nicht bin), kann ich vielleicht nur wie Luther sagen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – und wenn es uns nicht gelingt, in den allerletzten Minuten vor 12 Uhr möglichst schnell die Weichen anders zu stellen, dann: „Gott behüte uns – Amen!“
Mit dem Wunsch: Euch und der Welt ein besseres und hoffnungsvolleres Jahr, verbleibe ich in tiefer Verbundenheit,
Eurer Reuven Berlin, Januar 2012
Ich wäre sehr dankbar, wenn Ihr diesen Brief weiterleiten könntet.
Ein Veranstaltung mit Reuven Moskovitz
findet im Rahmen des Club Voltaire München
am Sonntag, den 5. Februar 2012 um 14 Uhr
im Werkstatt Kino in der Fraunhoferstraße 9 / Rückgebäude im Keller
„Den Nahost-Konflikt verstehen lernen –
Deutsche Jugendliche begegnen Israelis und Palästinensern“
Dokumentarfilm 2011
von Stefanie Landgraf und Johannes Gulde
Zwölf deutsche Jugendliche auf einer einzigartigen Begegnungsreise durch die Krisenregion Nahost. Ihr Ziel: Menschen kennenzulernen, die sich aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt gelöst haben, die auf individuelle Weise den Weg des Dialogs und der Verständigung gehen. Mit dabei ist der HipHop-Künstler ENZ, der seine Eindrücke während der Reise mit seinen „rhythm and rhymes“ wiedergibt. Im Gepäck der 16- bis 22Jährigen: das Schulbuch des Friedensforschungsinstituts PRIME in Jerusalem „Die Geschichte des Anderen kennen lernen – Israelis und Palästinenser“. Die Vorbereitung mit diesem Buch war für die Jugendlichen der Einstieg, die unterschiedlichen Sichtweisen der Konfliktparteien wahrnehmen und verstehen zu können.
Begleitet wird die Gruppe durch Israel und Palästina von einer Israelin (Tochter von Holocaust-Überlebenden) und einem Palästinenser (ehemaliger Widerstandskämpfer, der mehrere Jahre in israelischen Gefängnissen saß).
Anschließendes Gespräch
mit Reuven Moskovitz
und den FilmautorInnen Stefanie Landgraf und Johannes Gulde / Terra Media Corp.
Bildquellen: Club Voltaire München, Terra Media Corporation