Krise und Krankheit – oder:"Gesundheit ist das höchste Gut"?

„Gesundheit ist das höchste Gut“ – Griechenland, Portugal, Spanien… beweisen das Gegenteil
Ein englisches Medizinjournal gibt ein Gutachten heraus, aus dem hervorgeht, dass es – vor allem in Griechenland, Portugal und Spanien – zu einem deutlichen Anstieg von Krankheit und Tod gekommen ist, auch zu einer rasanten Zunahme von Selbstmorden. Die Autoren des Gutachtens machen dafür die Finanzkrise und die in ihrem Gefolge verordneten Sparprogramme verantwortlich. Natürlich legen Politiker sofort Einspruch ein und erklären die erhobenen Daten für nicht zureichend oder „wenig belastbar“. Aber wenn man einen Zeitungsbericht liest oder im Fernsehen sieht, wie es z.B. mittlerweile in griechischen Krankenhäusern zugeht, erkennt man schon durchs einfache Hinsehen, dass die Gesundheitsfürsorge drastisch heruntergefahren wurde. Das trifft dann gleich die Alten, die chronisch Kranken, dann aber auch – dazu später mehr – die Junkies, es trifft natürlich aber auch die gesamte Bevölkerung, was man zum Beispiel daran sieht, dass überwunden geglaubte Krankheiten wie Malaria, West-Nil- und Dengue-Fieber wieder ausbrechen. Demonstranten und Streikenden in diesen Ländern ist schon länger klar, was ihnen droht, und sie haben einen Schuldigen gefunden: die so genannte Troika, bestehend aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds. Es herrscht große Wut über diese Troika, wenn die darauf besteht, dass die öffentlichen Gesundheitsausgaben innerhalb von 3 Jahren von 14 auf 9,5 Milliarden Euro, also um fast ein Drittel zusammengestrichen werden und wenn sie weitere „Einschnitte“ verlangt. Die empörten Bürger sehen darin eine einzige Gemeinheit und Ungerechtigkeit und sie werfen der Troika vor, die griechische Regierung erpresst zu haben. Die Erpressung zeugt für sie von dem Willen, Griechenland unterjochen zu wollen. Und auf ihre eigene Regierung sind sie sauer, weil die sich feige unterjochen lässt. Aber sind „Erpressung“ und „Unterjochung“ überhaupt die richtigen Bezeichnungen?
In einer, und zwar in der entscheidenden Frage sind sich die Troika und die griechische Regierung schließlich einig: Es geht zuallererst um das Überleben des Staates. Das steht deswegen auf dem Spiel, weil er kein Geld mehr hat, und er hat kein Geld mehr, weil ihm die Finanzmärkte die Verlängerung seiner Schulden verweigern. Das ist aber nicht nur lebensgefährlich für den Staat, sondern auch – und darin liegt die Gemeinsamkeit von griechischem Staat und Troika – für das gesamte Euro-System, wenn nicht für das Welt-Kreditsystem. Das Überleben des Staates hat also die höchste Priorität. Damit das gelingt, hat der Staat – und da ist die Troika allerdings ziemlich unerbittlich – Leistungen zu erbringen. Die bestehen darin, alle Ausgaben zu unterlassen bzw. wegzustreichen, die überflüssig sind. Bei der Festlegung dessen, was als ‚überflüssig‘ zu gelten hat, wird dann schlagend deutlich, was zugunsten des Überlebens des Staates über die Klinge zu springen hat – eben das Leben seiner Untertanen. Die Troika bezeichnet den Gesundheitssektor als „überdimensioniert“: Dass dieser Sektor mit zu vielen Krankenhäusern, Ärzten, Krankenschwestern, medizinischen Geräten usw. ausgestattet war, kann das nicht bedeuten – dann würde das Gesundheitswesen auch nach ein paar Streichungen noch funktionieren und es käme nicht zu den jetzt zu beobachtenden verheerenden Wirkungen dieser Streichungen. Mit dem Ausdruck „überdimensioniert“ befindet die Troika vielmehr, dass sich der Staat die Gesundheit seines Volkes nicht mehr leisten kann. Griechische Bürger kennen genauso wie deutsche den Spruch: „Gesundheit ist das höchste Gut“ – der wird einem ja dauernd vorgebetet. Sie sind fassungslos: So roh kann man doch nicht mit uns umgehen! Doch, man kann – und sie bekommen vorgeführt, was es mit diesem „höchsten Gut“ auf sich hat.
Für den Einzelnen ist Gesundheit darum das „höchste Gut“, weil es sich dabei um eine elementare Voraussetzung handelt, sich einen Lebensunterhalt verdienen zu können – oder er ist auf Hilfe angewiesen, wobei er nicht darüber bestimmen kann, wie sie aussieht oder ob er sie überhaupt bekommt. Auch der Staat sieht die Gesundheit als eine elementare Voraussetzung, allerdings unter einem anderen Blickwinkel. Ihm geht es um einen brauchbaren Volkskörper. Der besteht für ihn aus Leuten, die imstande sind, für sich selber zu sorgen. Das ist darum schon mal wichtig, weil sie dann nicht ihm bzw. den Sozialkassen zur Last fallen. In erster Linie geht es ihm aber darum, dass sich solche Leute in den Dienst eines kapitalistischen Unternehmens stellen und so ihren Beitrag zum Wachstum des Bruttosozialprodukts leisten. Das müssen sie dann aber auch können – deswegen gibt es ein Gesundheitssystem, das sich mit den umfangreichen gesundheitlichen Schädigungen, die so ein Dienst am Wachstum mit sich bringt, befasst. Worauf ein solches System zielt, ist, die Leute so weit bei Gesundheit zu erhalten, dass sie ihren Dienst möglichst kontinuierlich und möglichst lange erbringen können. Dafür ist es dann allerdings auch nötig – wozu nur die Minderheit der reichen Staaten imstande ist -, ein System aufzubauen, das umfassend, schnell und wirkungsvoll auf die vielen Krankheiten eingehen kann, sodass Fehl- und Ausfallzeiten möglichst gering gehalten werden. In einem solchen System können sich reiche Menschen, wie auch sonst immer, ein Mehr an Gesundheit kaufen, was aber nicht heißt, dass ärmeren Menschen bei der gesundheitlichen Versorgung der medizinische Standard einfach vorenthalten wird – schließlich geht es dem Staat um eine allgemeine Aufrechterhaltung der Brauchbarkeit des Volkes, also ohne Ansehen der Person und ihres speziellen Status. Letzteres wackelt immer mal wieder, wofür gerade das reiche Deutschland ein Beispiel ist. Da gibt es die nicht enden wollende Diskussion um die Gesundheitsreform, die sich allein der Tatsache verdankt, dass mit zunehmender Verarmung die Beitragszahlungen sinken und sich den Reformern die Frage stellt, ob man sich die bis dahin bestehende Gesundheitsversorgung eigentlich noch leisten könne. Es kommt – neben den bekannten „Zuzahlungen“ – zu Leistungsminderungen, bis hin zu dem, dass nach einer „Rationierung“ gerufen wird, dass man sich also z.B. überlegt, ob man alten Menschen tatsächlich noch Hüftgelenke einsetzen soll, obwohl ihr Nutzen fürs Wachstum doch sehr bescheiden sei.
Was hierzulande noch als Einzelfall diskutiert wird und als eher heikel gilt, ist in Griechenland jetzt der brutale Allgemeinfall. Am Niedergang der Staatsfinanzen zeigt sich für Staat und Troika: Das Volk wurde zwar einigermaßen gesund gehalten, aber die Leistungen, die es mit dieser Gesundheit erbringen konnte, waren im Resultat zu wenig – der Reichtum, den der Staat braucht, ließ sich aus ihm nicht herauswirtschaften. Die Bild-Zeitung macht daraus eine Hetze gegen die „faulen Griechen“, aber Troika und Staat sehen das ganz sachlich: Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ergibt, dass die Griechen Mitglieder einer Volkswirtschaft sind, die im europäischen Konkurrenzkampf unterlegen ist, weil andere Staaten diese Konkurrenz mit größeren und produktiveren Kapitalen bestritten und gewonnen haben, und das hat den Staat an den Rand der Handlungsunfähigkeit geführt. Im Resultat zeigt sich: Die staatliche Investition in die Brauchbarkeit seines Volkes – wozu das Volk bekanntlich mit Steuern und Sozialbeiträgen ausgiebig herangezogen wurde -, hat sich nicht ausgezahlt, sie ist angesichts der Konkurrenzniederlage eine Fehlinvestition. Daraus ergibt sich der dieser Wirtschaftsweise angemessene zynische Schluss: Die Kosten für die Gesundheit dieses Volkes kann man sich nicht mehr leisten, seine Gesundheit ist „überdimensioniert“ – nicht dieser oder jener, sondern das Volk insgesamt muss mit weniger Gesundheit auskommen. Also muss die Sterberate in Griechenland steigen. Daran sieht man: Die wirklich höchsten Güter, für die auch Leben geopfert werden muss, sind der Staat und das Geld.
P.S.

Griechische Junkies bekommen keine sterilen Nadeln mehr. Gerade die lächerliche Summe, die dadurch eingespart wird, wirft ein Schlaglicht auf das durch und durch marktwirtschaftliche Prinzip: Man hat sie gnädigerweise überleben lassen, auch wenn nicht abzusehen war, dass sie sich noch jemals nützlich machen würden – in der jetzigen Notlage des Staates ist Schluss mit Gnade und jeder Cent für sie zu viel.