Jedem Menschen stehen, so heißt es, Menschenrechte zu. Nach allgemeiner Auffassung ist deren wichtigste Eigenschaft, dass sie auch und gerade für den Staat bindend seien. Der Staat ist ansonsten die Instanz, die bestimmt, welche Rechte und Pflichten wem zukommen, aber den Menschenrechten untersteht auch er. Mit denen soll also nicht weniger als eine Dienstvorschrift für die Ausübung hoheitlicher Gewalt vorliegen.
Nach ebenso allgemeiner Auffassung ist das eine hervorragende Sache, weil der Mensch sonst schutzlos der Allmacht staatlicher Gewalt ausgeliefert sei. Mit dem Menschenrecht aber seien Staaten bzw. deren Amtsträger bei der Ausübung der ihnen übertragenen Amtsgewalt auf bestimmte Verfahren und Grenzen verpflichtet.
Jetzt fällt aber schon auf, dass die Menschenrechte ziemlich arm dran wären, wenn nicht die Staaten sich selbst auf ihre Einhaltung verpflichtet hätten. Die humanistische Idee natürlicher Gattungsrechte ist erst mal nur eine Idee, und damit mehr daraus wird, muss sich schon einer, der über Macht verfügt, ihrer annehmen. Die Menschen können da nichts ausrichten, das können nur die Staaten sein. Sie setzen also ihre Macht dafür ein, sich einer höheren Macht zu unterstellen. Das ist merkwürdig – und wirft ein paar Fragen auf:
– Die Natur soll den Menschen mit einer handvoll Schutzrechten vor staatlicher Willkür ausgestattet haben: Woher weiß die Natur, dass der Mensch einem Staat unterworfen ist? Und wie kommt sie darauf, dass der von sich aus die Leute zu unterjochen trachtet, wenn ihm keine Schranken gesetzt sind?
– Eine vollständige Verschonung vor staatlicher Gewalt versprechen auch die Menschenrechte nicht. Aber welches Maß an Schonung vor staatlicher Gewalt soll denn der Natur des Menschen entsprechen?
– Ein moderner Staat lobt sich dafür, dass er das Menschenrecht einhält. Nur: Wenn schon der Staat ohne menschenrechtliche Fesselung ein einziger unmenschlicher Willkürapparat sein soll – spricht das dann wirklich für ihn?
– Und wenn der Staat für die Menschen nur dadurch überhaupt erträglich sein soll, dass das Menschenrecht ihm so manches verbietet – sollte das nicht ein paar Zweifel an dem aufkommen lassen, was er sich im übrigen so alles erlaubt?
Vielleicht ist ja die große aufklärerische Idee eines menschlichen Naturrechts, das staatliche Gewalten bindet, tatsächlich nicht mehr als eben dies: theoretisch die Paradoxie, dass Staaten ihre Macht dazu verwenden, eine Macht über sich zu installieren, und praktisch zu nichts anderem nütze als zur Verherrlichung genau der Gewalt, die neuzeitliche Staaten für die Durchsetzung ihrer Zwecke für angebracht halten.
Vortrag und Diskussion
Das Menschenrecht:
Rechtfertigung bürgerlicher Herrschaft mit der „Natur“ der Beherrschten
Zeit: Donnerstag, 20. 6. 2013, 1930 Uhr
Ort: LMU-Hauptgebäude, Geschwister-Scholl-Platz 1, München
Hörsaal A 214 (2. Obergeschoss)