Dass Staaten eines unnatürlichen Todes sterben, ist an sich die Regel, Anlass zur Trauer unter den Hinterbliebenen ist eher selten. Allemal haben sie ihren Untergang der zielgerichteten äußeren Gewalteinwirkung näherer und entfernter Nachbarn zu verdanken, und da ist bei denen stets die Freude groß, wenn der Konkurrent, an dem sie sich stören, endlich zugrunde geht. Nur ganz selten kommt es vor, dass Staaten in ihrem ewigen Kampf um Selbstbehauptung gleichsam die Lebenslust verlieren, selbst Hand an sich legen und derart, mit dem freiwilligen Ausstieg aus der Konkurrenz der Mächte, das Ringen zur Entscheidung bringen. Da ist dann bei den Hinterbliebenen, die sich schon immer an ihnen störten, die Freude besonders groß. Zumal dann, wenn es unter ihnen einen gibt, der sich, wie die alte BRD gegenüber der alten DDR, immer schon als rechtmäßiger Eigentümer der Besitzstände seines unmittelbaren Nachbarn verstand und deswegen als geborener Erbe des verblichenen Staatswesens. So ein Rechtsnachfolger, der dementsprechend schon immer an vorderster Front darauf hinwirkte, den Erbfall zur Restaurierung der historischen Gerechtigkeit aus eigener Kraft herbeizuführen, kann, wen wundert’s, das Glück der realsozialistischen Selbstentleibung kaum fassen. Darüber wollen sich die Begünstigten noch 25 Jahre nach dem unerhörten Ereignis gar nicht beruhigen.
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Selbstverständlich müssen sie zum Jubiläum ihres Glückstags ihr Volk in die Feier ihrer Freude miteinbeziehen: Bei wem sonst, wenn nicht bei Nationalisten ihres Schlages, sollten sie auch auf ehrliche Gegenliebe treffen beim Gedenken der Umstände, denen Deutschland seine neue Pracht zu verdanken hat?! Aber: Die Einheit wollen sie einem „Geschenk der Geschichte“ verdanken, das in den Schoss gefallen sein soll, und vor allem dem Volk, ‚unserem‘ vor allem, im Näheren unseren vormals ideell betreuten ‚Brüdern und Schwestern‘ im Osten, die ihren Ausschluss aus dem Staat, zu dem sie eigentlich immer schon gehörten, nicht mehr ausgehalten haben. Bis zum Erbrechen kauen sie die Rede von der „friedlichen Revolution“ wieder, die seinerzeit das falsche Regime „zu Fall gebracht“ gebracht hätte, und dann entrichten sie mit Pomp & Circumstances ihren Dank an „die Väter der Einheit“!
Was die Abteilung ‚Revolution‘ betrifft, stehen natürlich die „Helden von Leipzig“ mit ihrem unglaublichen „Mut“ an erster Stelle – Aufständische, die sich lieber von einer anderen Obrigkeit regieren lassen wollten, einer, die mehr Erfolg und mehr Macht vorzuweisen hatte, und vor allen Dingen ein Geld, das den Zugang zur Großen Freiheit der Warenwelt eröffnete: Zu der sind Millionen von Helden übergelaufen wie ein Mann. Dann wird anderen, mit politischer Kompetenz ausgestatteten verdienten oder auch unfreiwilligen Revolutionären gedacht, die dem unstillbaren versammelten Freiheits-, Einheits- und Brüderlichkeitsdrang dieses deutschen Volksteils den Weg geöffnet haben: dem wackeren Sachsen, unserem damaligen Außenminister im gelben Pullover auf dem Balkon der Prager Botschaft, der den wartenden Ossis die frohe Botschaft verkünden durfte, dass sie endlich frei sind, dorthin zu gehen, wo Deutsche hinwollen; und dem Trottel aus dem SED-Politbüro, der mit seinem Versprecher die „Todesmauer“ erst so richtig einstürzen ließ – das waren die politischen Akteure dieser Schicksalsstunde, die mit den ‚Wir-sind-das-Volk‘-Umzügen überhaupt erst etwas Rechtes anzustellen wussten. Was die Abteilung „friedlich“ betrifft, so gebührt da der Dank aller Deutschen an erster Stelle den Führern der größten Kriegsallianz, die die Welt je gesehen hat, und danach natürlich auch dem Führer ihres östlichen Gegenspielers, weil der ja am Ende, voll Bewunderung für die Erfolge seiner Feinde, die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens eingesehen hat, sich gegen die Waffen der Freiheit mit einem alternativen System zu behaupten. Freilich, seine mahnende Erinnerung an den politischen Dank, den sich Russland damit verdient hat, die Anerkennung eines russischen Anrechts auf eine machtvolle Rolle in einer doch nun im Frieden vereinten Welt nach dem Ende des ‚Kalten Kriegs‘, die muss man als Störung unserer nationalen Feier dann doch entschieden zurückweisen.
Dessen ungeachtet: Im Grunde haben die Führer der damaligen Weltmächte doch nur dem wahren Subjekt zum Zuge verholfen, das damals durch Stacheldraht und Beton nicht aufzuhalten war, eigenhändig die Mauer eingerissen, und ’sich‘ zu Deutschland befreit hat: dem deutschen Volk. Das darf und soll deswegen vor allem sich feiern, das soll und darf die Erledigung und Übernahme der DDR, den Umsturz der Machtverhältnisse in Europa als seine private deutsche Schicksalsstunde noch einmal nacherleben und nachfeiern in allen kleinen und großen Erlebnissen, mit denen ‚jeder‘ damals, in diesem ‚historischen Moment‘ am nationalen Geschehen beteiligt war. Und wenn Alt-Kanzler Kohl daran erinnert, dass vielleicht damals doch nicht bloß ein Volk ‚aufgestanden‘ ist, weil er in einer Ossi-Bürgerbewegung noch nie mehr gesehen hat als die nützlichen Idioten seines erfolgreich betriebenen Revanchismus und seiner staatsmännischen Leistung – „Es ist ganz falsch so zu tun, als wäre da plötzlich der Heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hätte die Welt verändert.“ –, dann wird auch das als faux pas des alt gewordenen ehemaligen „Kanzlers der Einheit“ in die volkstümliche Inszenierung einer Feierstunde des mächtiger gewordenen Deutschlands mit eingemeindet. Kurz: Damit zusammen feiert, was im neuen Deutschland zusammen gehört, wird zum „Fest der Freiheit“ gelogen, dass die leuchtenden Ballons nur so fliegen. Das gehört dazu: Tausende von Kindsköpfen vor Ort, hunderttausende live dabei und Millionen vor den Bildschirmen.
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Sicher ist das alles schon für sich zum Kotzen. Aber es ist allemal gut und nützlich zu wissen, was hinter der unmittelbaren Empfindung liegt, die einen da beschleicht. Und wenn einem die Chefs der Freiheit schon partout nicht verraten wollen, wie sie sich das erobert haben, worüber sie sich heute so freuen, kann man ja andere Quellen zu Rate ziehen.
Unser Tipp:
Peter Decker / Karl Held
Abweichende Meinungen zur „deutschen Frage“
DDR kaputt, Deutschland ganz!
Eine Abrechnung mit dem „Realen Sozialismus“ und dem Imperialismus deutscher Nation
Resultate Verlag 1989, ISBN 978-3-929211-06-1
Peter Decker / Karl Held
Abweichende Meinungen zur deutschen Einheit
DDR kaputt, Deutschland ganz (2)
Der Anschluss: Eine Abrechnung mit der neuen Nation und ihrem Nationalismus
Resultate Verlag 1990, ISBN 978-3-929211-07-8