Über die Amoralität der herrschenden Vernunft. Von Thomas Gebauer aus dem Medico Rundschreiben 01/2012
Eine Nachricht macht die Runde, die eigentlich den Verfassungsschutz auf den Plan rufen müsste, sollte es ihm wirklich darum gehen, die Grundfesten der Gesellschaft zu schützen. Ende Januar 2012 vermeldet „Standard & Poor s“, dass aufgrund der Überalterung der Bevölkerung in vielen G-20-Ländern, insbesondere in Europa, die Gesundheitsaufwendungen wachsen würden und deshalb einige dieser Länder schon bald in ihrer Kreditwürdigkeit herabgestuft werden könnten. Ihre unverhohlene Drohung verbindet die unterdessen notorisch bekannte Rating-Agentur mit der Empfehlung, die Regierungen müssten endlich entschlossen nicht nur die Renten senken, sondern auch die Gesundheitsausgaben anpacken.
Etwa zeitgleich macht eine große deutsche Bank von sich Reden, die offenbar schon länger mit der Gesundheit der Menschen spekuliert, genauer: mit dem größer werdenden Risiko, das Lebensversicherungsgesellschaften für den Fall eingehen, dass den Versicherten ein langes Leben beschieden sein sollte. Dieses Risiko, „langes Leben“, hat die Bank den Versicherern abgekauft, um es als verbrieftes Zertifikat an potentielle Anleger weiterzuverkaufen. Deren Rendite – und damit auch der Umsatz der Bank – steigert sich in dem Maße, wie die Versicherten früher sterben – was bei sinkenden Renten- und Gesundheitsaufwendungen zumindest wahrscheinlicher ist.
Die Dinge, so ist bei aller Empörung festzustellen, entbehren nicht einer gewissen Logik. Es ist die Logik einer Vernunft, die längst das aus dem Blick verloren hat, was sie einmal angetrieben hat: die Idee der Aufklärung, die ursprünglich darauf zielte, die Menschen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Der aufgeklärte Mensch, so wollte es Immanuel Kant, verträgt keine ihm äußerliche Autorität; er solle einzig seinen Verstand nutzen, selbstbestimmt und unabhängig jedweder Zwänge, zum Wohle eines friedvollen Zusammenlebens.
Kants Hoffnung auf eine Moralität, die aus aufgeklärter Vernunft entspringe, hat sich nicht erfüllt. Das Gegenteil ist heute der Fall. Wenn ausgerechnet die klügsten Köpfe eines Landes mit Phantasiegehältern in Jobs gelockt werden, die nur die Aufgabe haben, noch die letzten Reste menschlicher Subjektivität der Berechenbarkeit und dem Nützlichkeitsdenken der Ökonomie zu unterwerfen, wenn sich wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten dazu hergeben, das intellektuelle Vermögen junger Menschen in eben solche Bahnen zu lenken, dann ist die Vernunft, und sei sie noch so blitzgescheit, amoralisch geworden. Einer, der es wissen muss, lässt daran keinen Zweifel. Derivate – und dazu zählen Finanzprodukte, wie die Spekulation mit dem Bedürfnis nach würdigem Wohnraum, der Entwicklung von Nahrungsmittelpreisen oder eben dem Risiko: „langes Leben“ – seien, so der Investment-Banker Warren Buffett, nichts anderes als „Massenvernichtungswaffen“.
Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils, erkannten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bereits 1944 in ihrem Hauptwerk, der „Dialektik der Aufklärung“. Aufklärung scheitert, weil sich Aufklärung, verstanden als rationale Beherrschung von Natur, ihrerseits in Herrschaft verwandelt habe: eine Herrschaft, die sich den Menschen nunmehr allerdings als rationales Prinzip zeige, als eine scheinbar wissenschaftlich begründete Weltherrschaft, als technologische und ökonomische Zwangsläufigkeit, die mit abstrakter Logik darauf dränge, die Menschen, ihr Denken und jede ihrer Regungen so zu standardisieren und zu versachlichen, dass sie berechenbar und dem Wirtschaftsgeschehen verfügbar werden.
Nicht ein Wort ist an solchen düster anmutenden Sätzen übertrieben, wenn der Blick auf eine Entwicklung fällt, die eben dieses Verfügbarmachen zum ersterbenswerten Ziel erhebt. Damit junge Menschen, allzumal die schwierigen Jungs, nicht länger stören, sondern glatt und brav werden, um schließlich ganz vorne mitschwimmen zu können, werden sie immer häufiger mit Pillen vollgestopft. Methylphenidat (MPH) heißt der Stoff, aus dem das heute aus keiner Schule mehr wegzudenkende „Ritalin“ gemacht wird und dessen Verbrauch seit den 1990er Jahren von 34 kg auf 1,8 Tonnen im Jahr angestiegen ist. Medizinisch lässt sich diese Form der Naturbeherrschung nicht mehr erklären. Rational ist sie nur aus Sicht politischer und wirtschaftlicher Interessen, die auf Vereinheitlichung und Manipulation setzen. Derart entpuppt sich Fortschritt als Zerstörung. An die Stelle von Befreiung aus Unmündigkeit tritt die Unterwerfung unter das Diktat einer Rationalität, die weder von Tradition, noch von Gesetz oder Moral kontrolliert wird, weil nichts mehr von dem, was Gesellschaften früher zusammengehalten hat, übrig geblieben ist.
Es gelte das Vertrauen der Märkte zurückzugewinnen, heißt es heute mit Blick auf die Gefahren, die in dem um sich greifenden Krisengeschehen der vollends enthemmten Ökonomie lauern. Allabendlich berichten Reporter von einem Börsengeschehen, das sie nicht mehr zu erklären wissen. Allgegenwärtig die Unterwerfung unter einen neuerlichen Mythos, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Der Glauben an den wohlwollenden Markt, der alles regle, aber ist die letzte „Metaphysik der Moderne“, so der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in seinem kürzlich erschienenen Essay „Das Gespenst des Kapitals“. Wer verhindern will, das die Erde weiter ins Unheil steuert, sollte auf eine Säkularisierung der Wirtschaftswissenschaften drängen. Veränderung, das steht fest, bedarf zuallererst der Zurückweisung einer instrumentellen Vernunft, die in ihrer Ausrichtung auf ökonomische Nützlichkeitserwägung selbst irrational und dumm geworden ist.
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Wunderbar, wenn der Begriff Säkularisierung endlich auch in diesem Zusammenhang verwendet wird. Am Beispiel Ritalin besonders durchsichtig.