Der „Rassismus“ der Fußball-Fans – was ist das?

Say No To Racism“:
Der „Rassismus“ der Fußball-Fans – was ist das?
audio hier: https://soundcloud.com/gegenstandpunkt-1/analyse-vom-7072015

Schon seit längerem und bei der Fußball-WM erst recht der ständige Aufruf: „Say No To Racism“. Offensichtlich sind Fußball-Fans notorisch anfällig für diesen „racism“. Aber was ist damit eigentlich gemeint, bei was sollen sich die Fans, die ja ansonsten sehr willkommen sind, zügeln? Gerade bei einer WM laufen viele verschiedenfarbige Menschen auf den Spielfeldern herum und versammeln sich auf den Stadionrängen und um die Stadien herum, aber Rassenkrawalle befürchtet die FIFA wohl nicht. Der „racism“, von deren Gründen sie keine Ahnung hat, den sie aber mitkriegt und der ihr nicht passt, ist mehr als der Hass auf eine andere Hautfarbe, geht sozusagen tiefer als die Haut.

Ein Fan will unbedingt mit seiner Mannschaft gewinnen. Er will an deren Kampf teilhaben, und dabei kommt es in erster Linie auf eines an: auf Durchsetzungsfähigkeit gegen den Gegner. Warum will der Fan die unbedingt sehen und erleben? Auf diese abstrakte Fähigkeit aller Fähigkeiten kommt es auch in seinem privaten „Lebenskampf“ an, aber die Siege, die er da erringt, sind rar und fad, die Niederlagen hingegen reichlich und bitter. Der Spruch, dass Leistung sich auszahlt, blamiert sich regelmäßig, aber die Leistung zurückzuschrauben, gar aus der Konkurrenz auszusteigen, kommt einfach nicht in Frage. Konkurrenzanstrengungen werden unablässig verlangt und der Normalmensch verlangt sie sich ab, auch wenn und gerade weil die erwünschten Ergebnisse nicht oder nur sehr mäßig eintreten. Doch was nicht ist, lässt sich immerhin fingieren. Dafür hat der Mensch seine Freizeit, wo man wenigstens in der Phantasie und wenigstens im Prinzip die Rechnung zwischen Aufwand und Ertrag aufgehen lassen kann. Der Fußball-Fan findet sich bedient durch einen echten Mannschaftskampf, den nicht er selbst austrägt, an dessen Austragung er aber Anteil nimmt, als ginge es um ihn: um seinen Willenseinsatz, um sein Durchhaltevermögen und als Lohn dafür um seinen Sieg. Im Fanatismus der Parteinahme für eine Kicker-Mannschaft wird der Kampf um den gerechten Erfolg delegiert, um in der Vorstellung auf dem Weg lebhaften Mitfieberns ungehemmt geführt zu werden, durch Niederlagen und Siege hindurch: So funktioniert hier Konkurrenz als Freizeitvergnügen.
Dieses Vergnügen will der Fan in einer Gemeinschaft ausleben. Für ihn wird mit tausend anderen Gleichgesinnten im Stadion ein Traum wahr: Erstens haben sie frei und die Mühe des Alltags hinter sich gelassen, zweitens sind jetzt mal sie gefragt: Als Aktivisten ihres Vereins legen sie sich ins Zeug für den Sieg ihrer Mannschaft und praktizieren kämpferische Parteilichkeit. Darin genießen die Fans die Tugend der Eintracht, die sie sonst bei ihren Zeitgenossen immer vermissen – im wirklichen Leben haben sie es schließlich mit lauter Gegensätzen zu tun, dazu noch mit der Anforderung, Selbstbeschränkung zu üben und anständiges Betragen an den Tag zu legen. Hier, im Spiel, triumphiert die Einigkeit des Kollektivs über ein anderes Kollektiv, der Gemeinsinn lebt als kämpferische Tugend.
Deren erbärmlicher Inhalt ist zwar nichts weiter als der parteiliche Fanatismus für den eigenen Verein, wächst sich beim wahren Vereinsanhänger aber zum vielleicht wichtigsten Teil seiner Lebenspraxis und Persönlichkeit aus, so dass am Ende der Spielplan über Glück und Unglück mehr entscheidet als der Schichtplan am Arbeitsplatz. Die Fans geben zu erkennen, dass sie als Individuen vollkommen in der Parteilichkeit für den eigenen Verein verschwinden, also aufgehen wollen, bis hin zu dem, dass sie sich als ein eigener Menschenschlag begreifen: „Bin kein Mensch und bin kein Tier, bin ein Fan von S04“…
Die andere Seite dieser frei gewählten Schicksalsgemeinschaft ist eine Anspruchshaltung, die bedingungslosen Respekt und Anerkennung verlangt. Mit der Gewissheit, in ihrem Verein eine unwiderstehliche Gemeinschaft im Rücken zu haben, legen sie ein angsteinflößendes Selbstbewusstsein an den Tag, dem spätestens die nächste Mannschaft und deren Anhänger massiv in die Quere kommen. Das offensive Auftreten von Fans vor, während und nach dem Spiel lebt erkennbar von deren angemaßten Rechtsanspruch auf Sieg: Die Fans reklamieren allen Ernstes in der sportlichen Auseinandersetzung ein klares Recht auf Erfolg. Siege geraten zum Triumph über die anderen, werden als Beweis der Überlegenheit des eigenen Haufens zelebriert, und die Spieler werden als Helden verehrt.
Niederlagen sind dem entsprechend tief gefühlte Blamagen, die man nicht auf sich und dem Verein sitzen lassen kann, weshalb die Gewaltfrage im Fußball dauernd auf dem Tisch ist, das Recht selbst in die Hand genommen wird und die Konkurrenz auf dem Rasen inner- und außerhalb der Stadien mit handgreiflichen Mitteln fortgesetzt wird. Gerade in den schweren Zeiten von Niederlagen und Abstieg(-sgefahr) bewährt sich eine große Tugend des wahren Fans: Mit seiner Treue gegenüber dem Verein wähnt er sich unverzichtbar für den unerschütterlichen Zusammenhalt und damit den sportlichen Erfolg. Er amtiert als ideeller Sittenwächter und fahndet im Kollektiv nach Schuldigen für den Misserfolg: Der Wechsel von Vereinssöldnern, die mal wieder „nur“ ihre Karriere und ihren Marktwert im Auge haben, grenzt an Vaterlandsverrat; Spieler haben vor dem Anhang auf den Tribünen eine moralische Bringschuld und geraten in den Verdacht, nicht alles gegeben und deshalb das Geld nicht verdient zu haben, das sie verdienen; der Ruf nach einer besseren Führung des Vereins wird laut.
Lächerlich macht sich mit dieser Tugendpraxis keine einzige Fangemeinschaft, im Gegenteil: Die Anhänger finden die öffentliche Anerkennung, die sie suchen. Zum Spielende erhalten sie den Beifall der Spieler, die darauf getrimmt werden, als Elite von oben her dem Fußvolk den ideellen Zusammenschluss mit ihm demonstrativ zu bestätigen. Ihr Verein selbst, heute oft genug eine moderne Aktiengesellschaft, stiftet den Stoff, der seinen Anhängern wichtig ist: Er lässt für den Personenkult um die Spieler die jeweils angesagten Devotionalien produzieren und macht mit deren Verkauf unter den Fans ein Bombengeschäft. Damit nimmt der Verein das Geld seiner Mitglieder als bleibende materielle Grundlage seines Erfolgs in Beschlag und so wächst mit dieser milliardenschweren Sphäre, welche die großen, potenten Vereine schaffen, genau das marktwirtschaftliche Angebot heran, welches das moralische Bedürfnis der Fans bedient und erst zur bedeutenden, gesellschaftlich anerkannten „Fankultur Fußball“ heranreifen lässt. Der nach allen Regeln des großen Geschäfts gefütterte und aufgeblasene Kult um Verein, Spieler und Mitglieder fällt dann nach dem Dafürhalten etwas gebildeterer Beobachter in seiner Rohheit ziemlich proletenmäßig aus. An den politökonomischen Status einer Klasse, die für Lohn arbeiten muss, denkt dabei allerdings niemand mehr. Die Massen, die den Kult begeistert mitmachen, tun es ja auch nicht – sie haben ihre proletarische Identität in der Abstraktion von ihrer gemeinsamen materiellen Lage gefunden: in einer Teilhabe an einem ideellen Triumph, in dem ihnen wildfremde Tribünennachbarn, erfolgshungrige Vereinsmanager und Spielermillionäre allemal viel näher sind als etwa ihre Arbeitskollegen, zumal wenn die dem falschen Fußballverein angehören.
Fußball-Fans sind wirklich gut: Wenn sie schon mal frei haben und jenseits der Pflichten des Alltags ein Interesse ins Auge fassen, dann fällt ihnen nichts Besseres ein, als eine ‚Gemeinsamkeit‘ zu praktizieren, in der schon wieder bloß um das altbekannte „Was darf ich und was muss ich?“ geht. Sie fingieren eine freiwillige Unterordnung unter ein Kollektiv, das ihnen einen ganzen Katalog von Ritualen, Pflichten und Schuldigkeiten der Mitglieder untereinander vorgibt, zu dem sie sich als ihrem Schicksal bekennen. So stilisieren sie ihre Anhänglichkeit an eine Mannschaft glatt zu einer Art auserwählten Gemeinschaft, einem einzig wahren Kollektiv, dem sie in der kämpferischen Auseinandersetzung dienen wollen und müssen. Da, im Kampf gegen andere, wird die eigene Gemeinschaft nämlich überhaupt erst so richtig fühlbar, und das macht für Fans dann auch den Reiz am Spiel um Tore aus: Sie nehmen es als Selbstbehauptung der eigenen Schicksalsgemeinschaft, deren Ehre sie sich zum ganz persönlichen Anliegen machen.
Mit dieser schönen Freizeitbeschäftigung freier Menschen ist die Einstellung fix und fertig, welche notorisch die unschönen Praktiken hervorbringt, die hin und wieder von offizieller Seite als Rassismus gegeißelt werden. Fans sind eben der festen Überzeugung, einem ehrenwerten Kollektiv anzugehören, das die moralische Gesinnung all seiner Mitglieder eint und von daher alle anderen prinzipiell ausgrenzt. Gegen die offiziell geächteten Hässlichkeiten im Fußball dann mit Appellen zu mehr Toleranz, die die Mannschaftskapitäne vor dem Spiel verlesen, vorgehen zu wollen, geht an der Sache vorbei. Über die Hautfarbe als Merkmal der scharfen Abgrenzung von „uns“ gegen die andern sind moderne Fans im globalisierten Fußballgeschäft nämlich oft hinaus. Als „Rasse“-Merkmal reicht heute die eigene Vereinsfahne, die die Zugehörigkeit zur richtigen Gemeinschaft symbolisiert…
Lesetipp: „Euer Hass ist unser Stolz!“ – Rassismus und Diskriminierung im Fußball (aus Gegenstandpunkt 2-14)