Kurz vor der Bundestagswahl sieht sich der SPIEGEL (Nr. 38/16.9.13), dieses immer so kritische Wochenmagazin der gebildeten Stände, zu einer – schon wieder – kritischen Titelgeschichte herausgefordert. Gewöhnlich widmet er sich mit großer Begeisterung den Erfolgen und Misserfolgen des laufenden Politikbetriebes, diesmal knöpft er sich aber Teile seiner eigenen Leserschaft vor, also die bundesdeutsche Intelligenz, und da insbesondere die, die man zur geistigen Elite zählt.
Den Intellektuellen kommt das Magazin in großer Aufmachung mit der Anschuldigung, sie würden mit unverantwortlicher und dann auch noch demonstrativer Wahl–Verweigerung zur Gefahr für die deutsche Demokratie: Als schlechte Vorbilder trügen sie dazu bei, das „Nicht-Wählen salonfähig“ zu machen. Für den SPIEGEL ist das eine fatale Entwicklung – am Schluss verspielen sie sogar noch die Demokratie: Intellektuelle und Prominente machen sich schuldig, wenn sie „ihre teils politikverachtende Haltung über alle Kanäle verbreiten. Sie schaden damit der Demokratie.“
Ein paar nicht-wählende „Philosophen und Künstler, Publizisten und Ökonomen“ sollen eine Gefahr für die Demokratie sein? Das ist, sachlich betrachtet, albern. Aber der SPIEGEL macht sich an diesen Figuren fest, um ein Exempel zu statuieren. Den „Intellektuellen und Künstlern“, die sich als Nichtwähler geoutet haben, steht es überhaupt und absolut nicht zu, eine, wenn auch noch so läppische, Distanz zum System der Freiheit an den Tag zu legen. In der SPIEGEL- Redaktion kennt man schon genug Figuren, die sich einfach passiv regieren lassen, ohne von ihrem aktiven Wahlrecht Gebrauch zu machen. Das entspricht gar nicht den hohen Ansprüchen an demokratischer Teilhabe durch das Markieren eines Wahlvorschlages mit einem Kreuzchen. Andererseits haben die Redakteure aber ein gewisses, wenngleich verächtliches Verständnis dafür:
„Während den Nichtwählern aus unteren Gesellschaftsschichten auch die Bildung fehlt, die immer komplexeren Zusammenhänge der Politik zu verstehen, missbrauchen die neuen Nichtwähler ihre Bildung, um sich über das politische System zu erheben.“
Im Kreis der minder bemittelten Massen herrschen also laut SPIEGEL unerfreuliche Zustände. Eben das erfordert aber von den „Intellektuellen und Prominenten“, also von denen, die in unserer Gesellschaft eher zu den Gewinnern zählen und dies dank ihrer gehobenen Bildung leicht einsehen könnten, umso mehr die Teilnahme an angesagten demokratischen Abstimmungen: Ganz unabhängig davon, was und wen sie wählen, verlangt der SPIEGEL von ihnen das vorbildhafte Bekenntnis zum Regiert-Werden überhaupt. Wer sich dem verweigert, der gebraucht nicht seinen gebildeten Verstand, sondern „missbraucht“ ihn, und er verfehlt so seinen Beruf als Mitglied der geistig-moralisch führenden Klassen: Anstatt Zustimmung für „das politische System“ einzuwerben, „erhebt er sich darüber“ mit seiner bloß subjektiven Distanz, ganz gleich wie die begründet ist. Das soll keinem der angesprochenen Kritikaster zustehen. Es steht von vornherein fest, dass die Resultate intellektueller Leistung, kurz: von „Bildung“, ausschließlich in einem zu münden haben, nämlich in der Parteinahme für„das politische System“. Was immer diese Intellektuellen einzuwenden und für ihre Wahlenthaltung anzuführen haben, zählt nichts gegen den harten Vorwurf der Zersetzung, den ihnen das kritische Magazin um die Ohren haut: Sie „schüren in diesem Wahlkampf alle denkbaren Ressentiments gegen `die Politik´ oder `das System.“
Die Schärfe im Ton von Seiten des SPIEGEL ist aber auch verständlich: Seine Macher saugen sich schließlich nicht 52 Nummern pro Jahr voll beißender, verantwortungsvoller Kritik aus den Fingern, nur um dann zu erleben, dass ein paar verblödete Intellektuelle nicht bemerken, dass das alles nur dafür da ist, um für das „System“ mit dem Namen „Demokratie“ Reklame zu machen.