Lampedusa: Die Öffentlichkeit kommentiert eine "humanitäre Katastrophe"

Auffällig ist an den Kommentaren zur Katastrophe vor Lampedusa erst einmal eines: Auf je verschie­dene Weise bescheinigen sie alle der Katastrophe eine furchtbare Folgerichtigkeit – und räumen so ein, dass der massenhafte Versuch von Afrikanern und Arabern, in der EU ein Überleben zu finden, ebenso wie das tödliche Fernhalten der Flüchtlinge zu diesem Europa einfach dazugehören.
Dagegen regen sich dann Trauer und Empörung. Ihr verleiht Heribert Prantl in der SZ Ausdruck, in­dem er einmal ungeschminkt die durchaus bekannte Wahrheit über das Grenzregime der EU zu Papier bringt:

Das Mittelmeer ist ein Massengrab. Die toten Flüchtlinge sind Opfer der europäischen Flüchtlings-politik. In dieser Politik hat die Abwehr von Menschen den Vorrang vor der Rettung von Menschen. Hilfe gilt als Fluchtanreiz. Der Tod der Flüchtlinge ist Teil der EU-Flüchtlingspolitik, er gehört zur Abschreckungsstrategie, die der Hauptinhalt dieser Politik ist.“

Dass Europas Grenzsicherung über Leichen geht, will Prantl dann aber doch nicht so stehen lassen: Er nimmt seine korrekte Denunziation der gezielten Abschreckung in den Vorwurf einer Unterlassungs­sünde zurück die Toten seien „Opfer unterlassener Hilfeleistung; womöglich handelt es sich auch um Tötung durch Unterlassen.“ , für die die Politiker sich gefälligst schämen und Abhilfe leisten sollen. Um ihnen ins Gewissen zu reden und seinen Imperativ unüberhörbar zu machen, wird er poetisch und erhebt die Auswanderer in eine höhere Sphäre: Sie sind Botschafter, die eine Botschaft überbringen, lebende Appelle an unsere Humanität. Dem eigenen hohen Wert wenigstens hätte die EU zu entsprechen und Zuflucht zu gewähren. „Die Flüchtlinge sind die Botschafter des Hungers, der Verfolgung, des Leids. Doch Europa mag diese Botschafter nicht empfangen. Die europäischen Außengrenzen wurden so dicht gemacht, dass es dort auch für Humanität kein Durchkommen mehr gibt.“

Diese europäische Abschottungspolitik, die Prantl für die Toten verantwortlich macht, findet der FAZ-Journalist Frankenberger auf der anderen Seite einfach unverzichtbar.
Es stimmt: Die europäische Politik hat vornehmlich das Ziel, illegale Einwanderer – und um solche handelt es sich – abzuwehren. … Aber fairerweise muss man sagen, dass das Ausmaß selbst die ver­nünftigste Flüchtlingspolitik überfordern würde.“
Klar: Lässt man einen afrikanischen oder asiatischen Hungerleider in die EU herein, dann kommen zehn oder hundert Mal soviel hinterher. Für den FAZ-Kommentator sind die trostlosen Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Auswanderer vor allem eines: „perfekte Fluchtbedingungen“. Die Not, die die Flüchtlinge aus ihrer Heimat treibt, trifft nicht einzelne, sondern die Bewohner von eineinhalb Kontinenten. Sie hat mit temporären Problemen oder einem durch auswärtige Unterstützung bewältigbaren Ernte- oder Produktionsausfall nichts zu tun, sondern zeigt einen dauerhaften Ruin der Lebensgrundlagen der Menschen dort an – weshalb, so der messerschafte Schluss, alle „zu uns“ wollen. Warum gleich neben potenten Wirtschaftsmächten wie Europa ganze Kontinente liegen, in denen nicht einmal das Überleben mehr geht, interessiert Frankenberger nicht weiter. Davon geht er als „den Gegebenheiten“ aus, auf die „Wir“ uns einstellen müssen. Ganz egal was irgendwer gegen die EU-Einwanderungs-Verhinderungspolitik einwenden mag, und was sich vielleicht auch gegen sie einwenden ließe: Diese Flut kann Europa nicht verkraften, selbst die vernünftigste Flüchtlingspolitik“ würde da scheitern.
Er präsentiert damit noch so eine „Gegebenheit“, die ihm keine Frage wert ist. Warum versteht es sich denn von selbst, dass Deutschland und erst recht die große EU nicht Millionen aufnehmen können? Fehlt es etwa an Platz oder materiellen Mitteln, zusätzliche Wohnungen zu bauen und Essen heranzu­schaffen? Die Flüchtlinge werden wie selbstverständlich als untragbare Belastungen und Unkosten für die sozialen Sicherungssysteme ins Auge gefasst. Dass die nach Europa wollen, um mit Arbeit für sich und ihre Familien zu sorgen, wird gar nicht erst in Betracht gezogen. Könnten sich die Einheimischen mit neuen zupackenden Händen nicht die Arbeit teilen, und das zusätzlich Benötigte leicht herstellen? Können sie eben nicht! Frankenberger hält sich nicht auf mit dem Warum. Er geht davon aus, dass in dieser Wirtschaftsweise massenhaft zusätzliche Arbeitsleute keine willkommene Unterstützung darstellen, sondern ein Problem. Ihm ist die Absurdität vertraut, dass Arbeit selbst – also der Aufwand, der nötig ist zur Herstellung der gebrauchten Güter – ein knappes Gut ist und schon ohne Einwanderer nicht für alle reicht. Weil Unternehmer dafür zuständig sind, Arbeit zu geben, die sich für sie lohnt, und weil sie dafür mit Lohn und Arbeitsplätzen knapp kalkulieren, ist Arbeit nicht einfach die Mühe, die sie ist, sondern ein Privileg, das der, der es hat, mit anderen nicht teilen kann. Nur deshalb sind zusätzliche Menschen im Land eine Bedrohung für diejenigen, die Arbeit haben. Das Kapital definiert, wie viele Leute gebraucht werden, also nützlich sind und leben können, und wie viele – an ausschließlich seinem Bedarf gemessen – Überbevölkerung darstellen und nur stören.

Aber natürlich, befinden Journalisten, sollte und könnte die Politik immerhin etwas unternehmen, damit sich solche Katastrophen im Mittelmeer nicht wiederholen müssten. Klare Worte findet Sebastian Schoepp von der Süddeutschen:

Es ist die EU selbst, die die Schlüssel in der Hand hält, um Migrationsgründe zu reduzieren. Aus­beutung und Arroganz halten Afrika am Boden. Es geht damit los, dass man aufhören könnte, die Küs­ten Westafrikas leer zu fischen, den Menschen mithin die Lebensgrundlage zu entziehen und ihre Re­gierungen dafür mit Almosen abzuspeisen. Man könnte auch das Dogma vom Freihandel nicht nur zum eigenen – kurzfristigen – Vorteil interpretieren und stattdessen Handelsschranken abbauen, denn die machen es armen Ländern fast unmöglich, gewinnorientiert zu produzieren. Man könnte versu­chen, die Afrikaner nicht mehr zu Rohstofflieferanten zu degradieren.
Ob der Autor weiß, was er da an Umständen und Ursachen anführt? Wenn Afrika hungert, weil die EU die Einfuhr dortiger Agrarprodukte beschränkt und zugleich europäische Agrarexporte subventio­niert, dann offenbart das viel mehr als eine egoistische Handelspolitik: Auch in Afrika hängt das Leben und Überleben nicht mehr davon ab, wie viel Lebensmittel die Bauern dort für sich und ihre Abnehmer erzeugen, sondern vom Geld, das sich in der Agrarproduktion verdienen lässt – und zwar auf einem globalen Markt. So viel Kapitalismus ist auf dem Katastrophenkontinent jedenfalls schon eingezogen, dass nur essen kann, wer – Schoepp sagt es – Gewinn zu machen oder sich dafür nützlich zu machen vermag – in Konkurrenz zu anderen, oft internationalen Anbietern, die dasselbe wollen und unmöglich alle ihr Ziel erreichen können. Und auf dieser Basis ist Europa mit seiner Marktregulation, Finanzkraft und Produktivität im Konkurrenzkampf um Geldquellen, Preise und Gewinne gegenüber afrikanischen Produzenten nicht nur gnadenlos überlegen, es ist überhaupt das politische und ökonomische Subjekt, das mit den entrichteten Lizenzgebühren für die Ausbeutung von den Fischgründen ebenso wie mit seinen Investitionen in die Cash-Crop-Produktion und die Rohstoffgewinnung sowie seiner Nachfrage nach den Produkten dieser drei Geschäftsfelder entscheidet, wie viel Geld überhaupt in Afrika ankommt, um als Quelle der Bereicherung der dortigen Eliten zu dienen. Kurz: die traditionellen Lebensgrundlagen der Bevölkerung in den meisten afrikanischen Ländern sind längst zerstört, an ihrer kapitalistischen Nutzung gibt es kein kapitalkräftiges Interesse. Dasselbe ökonomische System, das die Flüchtlinge hierzulande zur Störung werden lässt, vertreibt sie auch aus ihrer Heimat.
Der Autor, der Europa der gezielten Ausbeutung und Arroganz bezichtigt, weiß, dass die EU ihre Politik gegenüber Afrika gar nicht ändern will, weil diese Politik den „kurzfristigen“ europäischen Wirtschaftsinteressen ganz gut entspricht. Seinen Verbesserungsvorschlägen steht die ganze Realität des wuchtigen Wirtschaftsbündnisses entgegen – und dem trägt er Rechnung mit dem durchgehaltenen Konjunktiv seiner Forderungen: „Man könnte…“, wenn nicht die ganz normalen kapitalistischen Geschäftsinteressen dem entgegen stünden.
Diesen imperialistischen Benutzungsinteressen, denen er gerade noch die katastrophale Lage des schwarzen Kontinents zur Last gelegt hat, gibt er schließlich Recht als dem einzigen gültigen Maßstab: Europas Afrikapolitik sei nicht nur für Afrika schlecht, sondern ebenso für Europa selbst, weil das Geschäft, das selbst dort mit der Bevölkerung zu machen ist, womöglich von der internationalen Konkurrenz gemacht wird.
Europa droht Afrika zu verlieren – und verpasst damit eine Chance. Viele afrikanische Länder haben enorme Wachstumsraten. Ruanda, Kongo, ja selbst Somalia sind weit mehr in Technologie und globa­le Wirtschaftszusammenhänge integriert, als das hierzulande wahrgenommen wird. Das Geschäft ma­chen jedoch zunehmend andere, Brasilianer und Chinesen. Um das einzuleiten, müsste man jedoch die rassistische Brille abnehmen, durch die Afrikaner noch immer wie zu Fortschritt unfähige Nehmer aussehen, zu denen man sie ja stets auch machen wollte.“
Vorurteilslose Eingliederung Afrikas in die „globalen Wirtschaftszusammenhänge“ der von dem Kommentator eben noch angeprangerten imperialistischen Ausbeutung – sollte es das sein, was Afrika weiterhilft?