Kommentar zu den erschütternden demokratischen Entscheidungen der letzten Zeit. [display_podcast]
Derzeit scheinen irgendwie alle Werte auf der Kippe zu stehen. Eine Wahl nach der anderen schafft als gut angenommene Gewissheiten ab. Wenn man nicht gerade ein Nachrichtenjunky ist, der zusehen möchte wie das Elend vor seinen Augen ausgezählt wird, geht man ins Bett und glaubt noch ein letztes Mal: „Die werden schon nicht so unvernünftig sein!“
Und dann zeigt sich doch, sie werden. Eine Mehrheit der US-Amerikaner war bereit einen chronischen Lügner und Narzissten zum angeblich mächtigsten Mann der Welt zu Wählen, wobei dabei auch die Minderheit ausreichte. Eine Mehrheit der Briten war bereit der EU den Rücken zu kehren und es allein zu versuchen. Eine Mehrheit der Türken ist scheinbar bereit die Checks-and-Balances, die geordnete Gewaltenteilung, und damit die Sicherungsmechanismen der Demokratie demokratisch abzuschaffen.
Und am kommenden Sonntag werden wir sehen, ob eine Mehrheit der Franzosen sich eine Präsidentin vorstellen kann, die offen fremdenfeindliche Politik macht und den Frexit fordert.
Die Demokratie ist irgendwie in eine Krise geraten. Es scheint so, als würden nur die Deutschen sich daran erinnern, was Adenauers Wahlspruch war, der seither auch über jedem Wahlkampf Merkels zu stehen schien: „Keine Experimente“.
Aber selbst in Deutschland schien sich die Stimmung zu ändern. Die bloße Verwaltungspolitik wird immer mehr abgelehnt, da ihre einschneidenden Entscheidungen, wie Atomausstieg, Flüchtlingsaufnahme und Griechenlandhilfe, kein Teil des Wahlkampfs waren, sondern sogenannte „alternativlose Entscheidungen“. Die AfD wurde unter anderem deshalb mit offenen Armen von einer unzufriedenen Masse empfangen, deren angebliche Politikverdrossenheit schon seit langer Zeit als Erklärungsmuster für schwindende Mitgliedszahlen der Volksparteien herhalten muss.
Die AfD nahm dabei vor allem den tief verwurzelten Wunsch nach starken, markigen Worten und Taten in der Politik auf. Noch 2016 äußerten in der Mitte-Studie der Universität Leipzig 6,7% der befragten Deutschen die Überzeugung, dass unter bestimmten Umständen im nationalen Interesse eine Diktatur die bessere Staatsform ist. 10,6% waren sogar der Meinung, dass es einen starken Führer bräuchte, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.
Natürlich ist die Unzufriedenheit mit der Demokratie kein neues Phänomen. Schon in ihrer frühsten Geschichte wurde sie andauernd kritisiert und bis heute bleibt Churchills pragmatischer Ausspruch Programm: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“
Das Hauptproblem das viele mit der Demokratie sehen, ist ihre mangelnde Effizienz und Schlagkraft. Viele Ideen und Ideale werden im demokratischen Prozess aufgerieben und aufgeschoben. Die Zurechenbarkeit geht verloren und am Ende scheinen sich diejenigen mit den besten Kontakten zum Establishment durchzusetzen. Mittlerweile erscheint die Demokratie sowieso ausgehöhlt zu werden, von Hinterzimmerentscheidungen und Sachzwängen in der globalisierten Welt abgelöst. Viele Menschen wollen sich nicht mehr mit Politik beschäftigen, wollen ihr Leben leben, Geld verdienen und ausgeben und mit den Kompromissen und scheinbaren Fehlentscheidungen nicht mehr belästigt werden.
Da scheint die Nachricht vom zumindest anzweifelbaren Erfolg des Referendums in der Türkei zur rechten Zeit zu kommen. Demokratie ist kein Naturgesetz und sie hat keinen Bestand, wenn die Zivilgesellschaft sich nicht an ihr beteiligt. Das soll natürlich nicht als Vorwurf an die kritische türkische Zivilgesellschaft verstanden werden, die über die letzten Jahre hinweg systematisch beschränkt und verfolgt worden ist. Vielmehr soll das ein Aufruf sein an all diejenigen, die sich in alter deutscher Biedermeier-Natur ins Private zurückgezogen haben und politische Betätigung meiden oder gar verachten. Demokratie ist nicht nur eine Staatsform sondern auch eine Gesellschaftsform. Sie beginnt auf lokaler Ebene, in Stadtteilspolitik in Stadträten, Kreisräten, dem Landtag und im Bundestag. Sie ist zu sehen in den zivilgesellschaftlichen Gruppen denen wir bei Lora immer wieder Zeit geben die Missstände zu kritisieren, die sie ausgemacht haben. Demokratie ist eben Arbeit an der Gemeinschaft, ist gemeinsame Veränderung des Bestehenden. Aus diesem Grund sollten wir aufstehen und von den etablierten Parteien mehr fordern als einen Wahlkampf, der um Stimmen buhlt um das Bestehende besser zu verwalten. Es braucht einen Wahlkampf mit Ideen, Forderungen und Idealen, die uns in diesen unsicheren Zeiten weiterführen und Halt geben können. Demokratie ist nicht die effizienteste Staatsform, aber die Fortschrittlichste, da sie die Vielfältigkeit der Wünsche anerkennt und daraus Politik macht. Damit diese Wünsche Gehör finden, müssen mehr Menschen in die Politik gehen und sich dieser Gemeinschaftsaufgabe annehmen. Denn das ist etwas was in Deutschland noch möglich ist, in der Türkei wahrscheinlich leider nicht mehr.