Meinungsbeitrag zur kurzfristig abgesagten Wahl der Bundesverfassungsgerichts-Richter*innen.
Frau Brosius-Gersdorf – dieser Name dominiert die Presse, erhitzt die Gemüter, droht die Regierung platzen zu lassen und was nicht noch alles. Gut, eigentlich sollte man erwarten, dass die Frau, die ordnungsgemäß und offiziell als neue Richterin am Bundesverfassungsgericht vorgeschlagen wurde, mit vollem Namen genannt wird: Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, LLM.
Frau Brosius-Gersdorf hat also die Titel Professor, Doktor und Master of Laws erlangt. Sie hat Rechtswissenschaften gelehrt und zahllose Beiträge zur Auslegung und Abwägung der Grundrechte und der Gesetze in der Bundesrepublik Deutschland verfasst. Ihre Arbeit ist meist trocken, besteht aus viel Lesen und Schreiben, und vor allem auch aus Nachdenken.
Lesen, Verstehen, Nachdenken, Abwägen – absolut unsexy in unserer aufgeheizten Medienwelt. Was dagegen aktuell überaus sexy scheint: Sich aufregen und echauffieren über Frauen, die sich durchdacht und pointiert zu Wort melden. Noch sexier ist es offensichtlich in verfälschenden Verkürzungen die Begründung für die Überlegenheit des eigenen „gesunden Menschenverstands“ über den Wahnsinn der angeblich wahlweise „woken“, „ideologisierten“ oder „aktivistischen“ Richterin, Wissenschaftlerin, Frau zu sehen.
Denn natürlich spielt es für einen nicht allzu kleinen Teil der lautstarken Kritiker und Kritikerinnen eine Rolle, dass hier eine Frau ist, die es wagt sich zum Thema Schwangerschaftsabbrüche aus einem juristischen Blickwinkel zu Wort zu melden. Dieser nicht allzu kleine Teil ist aber vermutlich nicht die treibende Kraft, er fungiert eher als Verstärker in einer erneut klug durchdachten Kampagne im trumpschen Zeitalter.
Was meint das trumpsche Zeitalter, fragen Sie? Hier ein kleiner aber nicht vollständiger Einblick:
Ämter werden entkernt – statt eine Anpassung an die Würde des Amtes und der Aufgabe mit Demut zu erwarten, wird die Machtfülle als persönliches Recht angenommen
Wissenschaft und Fakten werden relativiert – Wissen wird Meinung und Meinung wird Fakten gleichgesetzt
Abbau von demokratischer Kultur und Konsens – aus dem politischen Gegner wird der politische Feind, der mit allen Mitteln bekämpft werden muss
Anstand und Werte werden Schwäche gleichgesetzt oder als elitär bezeichnet – Provokation und Diffamierung werden als angeblich volksnahe Sprache verkauft
Und all das lässt sich jetzt beobachten, bei diesem von Frauen- und Wissenschaftsfeindlichkeit getragenen Anschlag auf das verfassungsrechtlich verankerte Bollwerk zum Schutze unserer Grundrechte. Denn nichts anderes ist das Bundesverfassungsgericht – der Ort, an dem Richterinnen und Richter damit beauftragt sind, die hohen Ideale, die das Grundgesetz an alle Gesetze und den Staat legt, gegeneinander abzuwägen und auf die Einhaltung dieser Ideale zu dringen. Und das unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten. Im besten Fall braucht es ja auch nur einen Artikel: Die Würde des Menschen ist unantastbar!
Doch in der Realität sehen wir: ganz so einfach ist es nicht. Natürlich fallen diese Abwägungen unterschiedlich aus – nicht umsonst gibt es den alten Spruch: 2 Juristen, 3 Meinungen.
Genau aus diesem Grund besteht das Bundesverfassungsgericht auch aus 2 Senaten mit insgesamt 16 Richterinnen und Richtern. Aus diesem Grund gibt es einen Wahlausschuss im Bundestag. Aus diesem Grund werden manche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts später anders gefasst.
Es gilt zu bedenken: Das Bundesverfassungsgericht ist mustergültig, ein Vorbild für die Verfasstheit und gesetzliche Verankerung eines Rechtsstaats und genießt deshalb international ein hohes Ansehen.
Was jetzt passiert ist, darf als erster Angriff auf den Schutz unserer Grundrechte verstanden werden. Nicht deshalb, weil angehende Bundesverfassungsrichterinnen nicht wegen deren Aussagen und Ansichten kritisiert werden dürften. Sondern deswegen, weil mit der Absage der Wahl im letzten Moment der Eindruck entstanden ist, dass Bundesverfassungsrichterinnen wegen ihrer Meinung und nicht wegen ihrer erwiesenen Fähigkeiten an das höchste deutsche Gericht berufen werden.
Und dieser Eindruck soll entstehen, damit in zukünftigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts immer wieder die Saat des Misstrauens aufgehen kann. Statt ein Urteil anzugreifen, das auf fundierter Abwägung der Grundrechte und des Grundgesetzes beruht, ist es viel einfacher, ein Urteil zu verwerfen, das von ideologisierten und aktivistischen Richterinnen und Richtern gefällt wurde. Nicht umsonst reibt sich die AfD zufrieden die Hände. Wer die freiheitlich demokratische Grundordnung ablehnt, braucht kein Verfassungsgericht, das auch über diese wacht.