Die erste umfassende Werkschau der Filme des österreichischen Regisseurs und Autors Ulrich Seidl wird auf dem derzeit stattfindenden Münchner Filmfest präsentiert. Von den insgesamt 214 auf dem Filmfest gezeigten Filmen sind 15 von Seidl.
Am Montag, den 28. Juni 2010 fand in der Black Box im Gasteig innerhalb der Regiegespräche „Filmmakers Live“ ein Gespräch zwischen Ulrich Seidl, dem Festivalleiter Andreas Ströhl sowie der Programmteam-Frau Susana Borges Gomes statt.
Ulrich Seidls erster Film „Einsvierzig“ stammt aus dem Jahr 1980.
Nach „Look 84“, einem Film über Models, war er sieben Jahre ohne Filmarbeit. Das wäre die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen.
Die ersten Filme waren eher Dokumentar- als Spielfilme. Trotzdem interessiere ihn der Unterschied nicht, sagt Seidl. Im seinen Spielfilmen stehen Nicht-SchauspielerInnen vor der Kamera, die in eine andere Umgebung gesetzt würden und nicht mit der „eigenen Frau und dem eigenen Hund“ aufträten.
Auch in seinen Dokumentarfilmen wird „alles inszeniert“, es gibt keine Zufälligkeiten, es ist ein „offenes Spiel“. Auch wenn die Menschen in ihren Wohnungen gefilmt werden, werde durchaus der Stand eines Möbelstücks (oder anderes) verändert.
Mittlerweile hat er den Sprung zum reinen Spielfilm vollzogen. Heute findet er auch bei der Produktion von Spielfilmen die volle Freiheit, ohne dass ihm reingeredet würde. Im Spielfilm kann Seidl (zum Beispiel) jemanden sterben lassen, im Dokumentarfilm ginge das nicht. „Hundstage“ gilt als sein erster Spielfilm.
Den Irrsinnsfilm „Tierische Liebe“ (1995) hat der ORF zu einem Drittel bezahlt. Der Film wurde im ORF nie gezeigt, er wanderte sofort ins Archiv. Dieser Film sei sein „absoluter Tiefpunkt“ gewesen.
Der Film „Models“ wurde als Dokumentarfilm finanziert und als Spielfilm vermarktet.
Der Film „Spaß ohne Grenzen“ wurde beim ersten Mal um vier Uhr früh im Fernsehen gezeigt, beim zweiten Mal immerhin schon um 23 Uhr. Die Sendzeit sei Seidl nicht so wichtig. Hauptsache, er könne machen was und wie er es will, ohne dass ihm RedakteurInnen reinreden. Sie könnten die Filme senden, wann sie wollten, Hauptsache, sie täten den Filmen nichts an.
Zur Vorgehensweise beim Drehen von „Tierische Liebe“ fragte Andreas Ströhl Ulrich Seidl, ob Seidl seine DarstellerInnen so auffordere: „Stellen Sie sich nackt mit Ihrem Hund in die Zimmerecke!“? Seidl bestätigte das. Die Antwort seiner DarstellerInnen sei „Ja, gerne.“.
Ulrich Seidl spricht über das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinen Leuten. Seine Methode sei immer nur das aus den Menschen rauszuholen, was in ihnen angelegt sei. „Es soll auschau’n wie es ausschaut.“ Die Menschen zeigen sich Seidl wie sie sind.
Der Film „Tierische Liebe“ ist ein Film über Menschen, nicht über Tiere. Es geht um Einsamkeit und unerfüllte Sehnsüchte. Es geht um Entfremdung. Die Gesellschaft könne eh‘ nicht helfen.
Ulrich Seidls Filme sollen weh tun – dem Publikum. Er will verstören, berühren, er sucht die Abgründe. Filme könnten die Gesellschaft nicht verändern, „leider“, aber das Bewusstsein. Wenn das Publikum anders aus dem Kino käme als es hineingegangen ist, hätte er etwas erreicht.
Wenn er seine Laien-DarstellerInnen castet, sucht Seidl Menschen, die charismatisch sind, die improvisieren können, die einen Film tragen können. Das könnten LaiInnen genauso gut wie professionelle SchauspielerInnen, den meistens die Worte eh‘ nur in den Mund gelegt werden.
In seinem neuesten Film „Import Export“ zeigt Ulrich Seidl Menschen in einem Altenheim in ihren Betten. Er ist dafür viel kritisiert worden. Die genehmigungsberechtigten Behörden sagten erst, er könne dort nicht drehen, weil er den Alltag dieser Menschen stören würde. Alte Menschen seien nicht herzeigenswert. Ulrich Seidl sieht in seinem Film die Würde dieser Menschen gewahrt. Er zeigt sie in ihrer Einsamkeit und Schutzbedürftigkeit. Besuch erhalten sie kaum bis gar nicht. Ulrich Seidl klagt die (gesamtwestliche) Gesellschaft an, die Alter und Verfall nicht sehen will. Er stellt seine ProtagonistInnen nicht bloß.
Früher galt Ulrich Seidl als Sozialpornograph und Nestbeschmutzer Österreichs. Seit er 2001 in Venedig mit „Hundstage“ den Großen Preis der Jury gewann, heißt es in der österreichischen Sportnation „Unser Mann in Venedig hat gewonnen“. Er wird als einer der Regisseure des Landes gesehen.
Als in Österreich die Fälle um Natascha Kampusch und Josef Fritzl öffentlich wurden – die beide in Kellern stattfanden – wurde Ulrich Seidl zu seiner Meinung zum Thema befragt. Er stellte die Gegenfrage „Warum ich?“. Und fand für sich die Antwort in Form einer neuen Filmidee: „Im Keller“. Seidl hat Ein-Familien-Häuser analysiert. Die Keller seien häufig größer als die Wohnräume. Die Freizeit werde im Keller verbracht. Gäste würden „oben“ empfangen.
Innerhalb des Filmfest-Gesprächs werden Ausschnitte aus „Im Keller“ gezeigt. Der kreative Wahnsinn des Herrn Seidl geht weiter! Festivalleiter Andreas Ströhl verspricht das Werk auf dem nächsten Münchner Filmfest zu zeigen.
Bildquellen: Filmfest München, Pressefotos von www.ulrichseidl.com
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Die erfrischenden Beiträge, Felicitas zum Filmfest München, sind saumäßig gut!! Gute Analysen! Eine sehr fleißige Autorin, man(n) könnte meinen, den anderen Autoren geht das Münchner Filmfest am Arsch vorbei. . . Sehr viele Sozialkritische u. politische Filme ! Weiter so, Felicitas