Vor einer Woche haben wir einen Beitrag zu den Arbeitsunfällen, Bränden, zusammenstürzenden Gebäuden und ähnlichem in Bangladesh und anderen südostasiatischen Ländern gesendet. Erklärt wurde, dass die ökonomische Rechnungsweise, die die Textilfirmen in Fernost praktizieren und die den Grund für die vielen Toten abgibt, sich in nichts von den Kalkulationen der entsprechenden Konzerne hierzulande unterscheidet: Wegen des Gewinns gilt es, alle Produktionskosten auf Teufelkommraus zu senken, was sich nicht nur im Lohn, sondern auch in den sonstigen Arbeitsbedingungen (Arbeitshetze, Arbeitssicherheit usw.) niederschlägt. Dass die Unternehmen u. a. in Bangladesh die Not der ums nackte Überleben kämpfenden Bevölkerung ausnutzen und ihre Kosten noch viel weiter als hierzulande runterfahren können, daran will die hiesige Öffentlichkeit nicht das allgemein gültige kapitalistische Prinzip wahrnehmen – dort eben besonders drastisch vorgeführt -, sie stellt vielmehr einen Vergleich an: Weil es hierzulande nicht gar so schlimm zugeht, sind die hiesigen Arbeitsumstände eigentlich ganz akzeptabel, und alles, was diese Öffentlichkeit an Katastrophen dort unten registriert, sind für sie dann zu skandalisierende „Auswüchse“ eines ansonsten ganz normalen Profitemachens.
Aus dieser Diagnose folgt die Therapie und die heißt: Der schrankenlosen Ausbeutung sind Grenzen ziehen! Doch wer soll das tun? In westlichen Sozialstaaten wird das Arbeitsvolk vor dem Gröbsten geschützt, das EU-Kapital zu einem einigermaßen zivilen Umgang mit ihm gezwungen, wer aber soll in Bangladesh dieses Kapital von diesen seinen „Auswüchsen“ abhalten? Eben dieses Kapital selbst – und zwar, weil es dort so mächtig ist. So werden die Täter als Helfer angerufen.
„Bangladesch ist nach China der zweitgrößte Textilproduzent der Welt, und die EU ist der größte Handelspartner. Der bangladeschische Staat ist also auf die Textilkonzerne aus den Industrieländern angewiesen. Sie haben Macht! Ist es nicht längst an der Zeit, dass die westlichen Firmen die Sozialstandards vorgeben anstatt nur die Abnehmerpreise? Sie können für anständige Arbeitsbedingungen sorgen und sie haben die Verantwortung dazu.“ (SZ, 4./5.5.)
Man sieht: Der Glaube, die Ausbeuter hätten „eigentlich“ eine Verantwortung gegenüber den für sie nützlichen Opfern, ist unverwüstlich. Ausgerechnet die Macht der Konzerne ist es doch, gegen die nach der kundigen Analyse der Berichterstatter nicht einmal die politische Macht des Staates Bangladesch etwas auszurichten vermag. Und diese ökonomische Macht, über deren Gebrauch und deren Wirkungen man einerseits nachdrücklich aufgeklärt wird, kriegt hier andererseits das Kompliment, sie sei gleichbedeutend mit einer Pflicht zur Fürsorge für die Lebensbedingungen der kommandierten Massen. Von dieser Fürsorge ist weit und breit nichts zu sehen, aber der Autor erklärt das nonchalant für ein Versäumnis, das er jetzt nicht länger entschuldigen will. Wenn die Konzerne schon die Macht haben, ruinöse Abnehmerpreise zu diktieren, so sollten sie ihre Macht doch auch gefälligst dafür einsetzen, andere „Sozialstandards“ vorzugeben, nämlich nicht mehr die, die sie laufend vorgeben. So einfach ist es, die Welt auf den Kopf zu stellen. Um welche „Sozialstandards“ sich da handeln sollte, weiß man in den zuständigen Redaktionsstuben auch:
„Das Sterben in den Fabriken Bangladeschs wird so lange weitergehen, bis das umgesetzt ist, was längst auf dem Papier geschrieben steht: Die Achtung der Menschenrechte, das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit, der Gesundheitsschutz, Chancengleichheit und das Recht, Gewerkschaften zu gründen. Es sind die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Es sind Mindeststandards und jene Arbeitnehmerrechte, die in vielen Industrieländern, in denen die Blut-Klamotten gekauft werden, selbstverständlich sind.“ (SZ)
Aufgeschrieben gibt es die Normen und Gebote humaner Ausbeutung des Faktors Arbeit also schon längst. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine ganze Reihe von Ge- und Verboten , aus denen sich schließen lässt, dass sich für die ökonomisch mächtigen Akteure des Geschäfts mit menschlicher Arbeit offenkundig überhaupt nichts von selbst versteht in puncto Rücksichtnahme und Fürsorge. Denen muss sogar der Verzicht auf „Kinder- und Zwangsarbeit“ erst gewaltsam aufgenötigt werden. All das scheint die wohlmeinenden Kritiker der Textilindustrie in Bangladesch genauso wenig zu irritieren wie der Befund, dass die Existenz solcher „Mindeststandards“ auf geduldigem Papieranscheinend gar nichts bewirkt und praktisch gar nichts bedeutet. Diese Kritiker sind sehr zufrieden mit dem schönen Gedanken, dass es das extreme Elend nicht mehr geben würde, wenn man sich auch in Bangladesch daran halten würde, dass das „Sterben in den Fabriken“ eigentlich schon längst verboten ist – so dass es dieses Elend demzufolge nur deswegen immer noch gibt , weil seine angeblich „längst fällige“ Verhinderung noch (!) nicht „umgesetzt“ ist. Man muss sich also nur diese kritisch-optimistischen Sicht der Dinge zulegen und schon ist es gar nichts Großes, sondern bloß die Verwirklichung dessen, was in den Abnehmerländern der südasiatischen Textilindustrie angeblich „selbstverständlich“ ist: die „Umsetzung“ dieser Standards auch in den Ländern, die nur deswegen eine Textilindustrie haben, weil die zuständigen Konzerne dort eben die „Sozialstandards“ durchsetzen, die sie für nötig halten – also keine.
Zu diesen Hoffnung stiftenden angeblichen Selbstverständlichkeiten in Bezug auf „humane Arbeitsbedingungen“ sind dann doch zwei Dinge anzumerken.
Erstens versteht sich das, was angeblich hierzulande so selbstverständlich sein soll, keineswegs von selber. Um der Ruinierung der für Lohn arbeitenden Menschenklasse überhaupt ein paar Schranken zu setzen, konnte diese Klasse sich nie auf die wohltätige Macht ihrer Arbeitgeber verlassen, auch nicht auf die Kalkulationen ihrer politischen Obrigkeit, und auf die Menschenrechte schon gleich nicht. Dafür musste die Arbeiterklasse schon den Willen aufbringen, Staatsgewalt und Kapital unter Druck zu setzen und nicht zu knapp Gegengewalt organisieren. Und das ist auch in den so vortrefflichen „Industrieländern“, in denen T-Shirts vier Euro kosten, alles andere als eine abgeschlossene Vergangenheit: Mitten im europäischen Wohlstand debattieren die politisch Verantwortlichen immer wieder über die Kosten sozialer Netze, die bei wachsendem kapitalistischen Reichtum für „unfinanzierbar“ erklärt werden. Und sie debattieren nicht bloß: Sie setzen überkommene Standards bei den Arbeitsbedingungen außer Kraft, wo die im internationalen „Wettbewerb“ nachteilig wirken könnten, und schaffen Rechtssicherheit für Lohndrückerei bis unters Existenzminimum. Wenn die hiesige Politik dann Staaten wie Bangladesch „Lohn-“ und „Umweltdumping“ als ungerechtfertigten Konkurrenzvorteil vorwerfen, dann stellt sie damit vor allem eines klar: Die stolzen „Arbeitsplatzbesitzer“ hierzulande müssen sich dem Vergleich mit den billigen Arbeitskräften in Asien und anderswo unausweichlich stellen, weil in der globalisierten Marktwirtschaft weltweit operierende Firmen diesen Vergleich praktisch anstellen und die zuständigen Staaten das als sehr vernünftigen ökonomischen Sachzwang akzeptieren.
Zweitens verhält es sich in Bangladesch mit der Machtfrage zwischen Textilarbeitern auf der einen, Textilindustrie plus Staat auf der anderen Seite ein bisschen anders als in den westlichen Industrieländern. In Bangladesh steht nämlich auf der einen Seite ein so massenhaftes und so nacktes Elend, dass an eine organisierte Gegenmacht kaum zu denken ist. Und auf der anderen Seite stehen hinter der ökonomischen Macht des Geldes, mit der sich ein paar Weltkonzerne eine einheimische Textilindustrie mit brutalen Ausbeutungsmethoden hingestellt haben, gleich zwei mächtige politische Instanzen:
Zum einen die Staatsgewalt vor Ort, die allemal stark genug ist, dem Kapital zu seinem Geschäft zu verhelfen und Protest gar nicht erst hochkommen zu lassen, und die ein eigenes ökonomisches Interesse daran hat, den Konzernen diesen Dienst auch zu leisten.
Zum anderen sorgen die hochzivilisierten Staatsgewalten der Ersten Welt rund um den Globus dafür, dass den Multis, die bei ihnen zu Hause sind, nirgends ein Leid geschieht, dass deren Eigentum und dessen geschäftliche Verwendung gesichert sind und bleiben, und dass kein drittweltlicher Staatsmann das Gemeinwohl seiner Nation woanders als in der Bedienung des globalisierten Kapitals sucht. Unter solchen Bedingungen gehört es zu den realen „Selbstverständlichkeiten“, dass in solchen Ländern nicht einmal eine brave, konstruktiv gesinnte Gewerkschaftsbewegung auf einen grünen Zweig kommt.
Auch das alles ist im Übrigen nicht unbekannt. Bloß hindert das die Anwälte „fairer Jobs“ in aller Herren Länder nicht, unsere Konzerne und unsere Sozialstaaten ideell in die Liste der Hilfsorganisationen einzugemeinden, an die man zwecks Abhilfe zu appellieren hat. Zugleich wissen die Appellanten an die Konzerne und an westliche Sozialstaaten aber auch, dass da kein Blumentopf zu gewinnen ist, und darum landet der Appell konsequenterweise bei einem Appell an „uns alle“, also bei denen, die nicht die Mächtigen sind. Mehr dazu im nächsten Beitrag zum Thema „Fair Trade.