Die NSA-Affäre – Deutsch-amerikanische Beziehungen in der „Vertrauenskrise“

Die NSA-Affäre

Deutsch-amerikanische Beziehungen
in der „Vertrauenskrise“

Juli 2013: Durch Enthüllungen Edward Snowdens wird bekannt, dass die USA weltweit Telefone und Computer überwachen, auch und gerade in Deutschland. Die Kritik am großen Bruder – „Abhören von Freunden…“ – zielt in erster Linie auf eine Beschwichtigung des Volkes: An die Bürger, die eine Verletzung ihrer Freiheitsrechte beklagen, ergeht der Bescheid, dass die herrschaftliche Kontrolle der Privatsphäre ein Erfordernis innerer Staatssicherheit und insoweit in Ordnung ist; weniger in Ordnung freilich gehe der amerikanische Generalverdacht gegen Bewohner eines befreundeten Staates. Als Hauptverbündeter der USA in Europa könne Deutschland die Schnüffelei nur dulden, wenn sie sich auf gemeinsame Feinde des Freien Westens beschränkt. So wird der Fall nach innen demokratisch sachgerecht entsorgt und nach außen diplomatisch bewältigt: Die Affäre ist bei unseren Politikern in besten Händen, der Innenminister legt sie nach einer US-Reise offiziell zu den Akten.1)
Oktober 2013: Es wird bekannt, dass auch Merkels Handy zu den Zielobjekten amerikanischer Geheimdienste zählt. Dazu Merkels Sprecher Seibert: „Abhören von Freunden, das ist inakzeptabel, das geht gar nicht, wir sind nicht mehr im Kalten Krieg!“ Die Kanzlerin selbst:
„Seitdem wir über die NSA sprechen, habe ich immer wieder auch gegenüber dem amerikanischen Präsidenten deutlich gemacht: Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht! Das habe ich im Juni gesagt, als er in Berlin war, im Juli und gestern in einem Telefonat – und zwar aus dem Interesse für die Bürger und Bürgerinnen in Deutschland. Da geht es nicht vordergründig um mich, sondern da geht es um alle Bürger: Wir brauchen Vertrauen unter Verbündeten und Partnern – und solches Vertrauen muss jetzt wieder neu hergestellt werden. Darüber gilt es jetzt nachzudenken, welche Datenschutzabkommen und welche Transparenz brauchen wir. Wir stehen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa vor gemeinsamen Herausforderungen, wir sind Verbündete, aber solch ein Bündnis kann nur auf Vertrauen aufgebaut sein.“ (Merkel vor dem EU-Gipfel)
Die Beschwerde ist vernehmlich, und die Verweise auf den ‚Kalten Krieg‘, der vorbei ist, auf die gemeinsamen ‚Herausforderungen‘, vor denen man heute stehe, und das Hervorheben der ‚Partnerschaft‘, die beide Mächte verbinde, unterstreichen das Gewicht, das ihr von deutscher Seite beigelegt wird: Sie machen deutlich, wofür im Verhältnis zwischen Deutschland und den USA die ewig wiederkehrenden Floskeln von „Freundschaft“ und „Vertrauen“ stehen, was also die aufgeflogene Abhöraktion politisch bedeutet, und zwar für die USA wie für Deutschland.

1.

Um mit den USA zu beginnen, so ist der ‚Kalte Krieg‘ für die Führungsmacht des westlichen Bündnisses gewiss auch vorbei; dazu bedarf es sicher keiner Erinnerung durch den Sprecher der deutschen Regierung. Allerdings wollen die USA eine Errungenschaft der vergangenen Zeiten auch heute nicht missen: Die politische Kumpanei mit dem seinerzeitigen Frontstaat BRD und ihre Federführung auf dem gemeinschaftlich beackerten Feld der Spionage.
Beides war seinerzeit existenzieller Teil der Kriegsplanungen des westlichen Bündnisses gegen den Osten. Was die Arbeit von Geheimdiensten generell auszeichnet: sich Einblicke zu verschaffen in die politische Willensbildung anderer Mächte, in die dort laufenden Berechnungen, geplanten Vorhaben und Mittel, um den eigenen Interessen Handhaben zu ihrer Durchsetzung und der eigenen Politik so Vorteile gegenüber ihren Widersachern zu verschaffen – das fand, dem Auftrag der NATO entsprechend, seine Zuspitzung im damaligen Zweck der Spionage: Es galt, den gegnerischen Block auszuforschen, um ihn im Kriegsfall effektiv zu bekämpfen und schon im Vorfeld des Krieges mit allen erdenklichen Mitteln auf die Erosion seiner Macht hinzuwirken. Dieser Zweck bestimmte die Zusammenarbeit der Partner im westlichen Bündnis, und das hieß für Deutschland: Die USA führte, die BRD leistete nützliche Dienste und war Frontstaat auch als ‚Spionagestandort‘. Unter Anleitung der USA wuchs eine komplette Infrastruktur deutsch-amerikanischer Kooperation heran, materiell wie politisch. Westdeutsches Staatsgebiet war Stützpunkt und Operationsbasis amerikanischer Agenten, die zur Ausübung ihres globalen Handwerks seitens deutscher Regierungen lizensiert waren: Man spionierte gemeinsam, weil man imperialistisch gemeinsame Sache machte.
An der Funktionalisierung Deutschlands für die eigenen Interessen halten die USA auch nach dem Abdanken des sowjetischen Systemgegners fest. Die Führungsmacht der imperialistischen Welt sieht sich dauerhaft von allem betroffen und entsprechend geht sie auch immer alles an, was die Mitglieder der Staatenwelt so treiben, in ihrem zivilen Verkehr untereinander und schon gleich dort, wo unmittelbar Gewaltfragen zwischen ihnen aufgeworfen werden. Daraus erwächst für eine Macht, die sich selbst zur Aufsicht über die Staatenwelt und ihre Gewaltaffären berufen sieht, ganz von selbst das universelle Bedürfnis wissen zu wollen, was Sache ist bei den Prozessen der politischen Willensbildung in den Staaten der Welt, bei der ökonomischen und militärischen Ausstattung feindlicher wie konkurrierender Mächte und und welche Vorkehrungen man da im Sinne der eigenen Interessen zu treffen hat. Dazu unterhält sie ihre einschlägigen Dienste, und dazu greift sie mit allergrößter Selbstverständlichkeit auf das Netzwerk befreundeter Staaten zurück – und unter denen eben auf Deutschland vorneweg –, mit denen sie sich im Grundsatz einig weiß im Interesse an einer weltweit respektierten internationalen Geschäftsordnung und die sie militärisch auch ohne den überlebten Systemgegner im NATO-Bündnis weiterhin leitet. Und sie verfügt auch über ein spezielles Argument für ihr Festhalten an den bewährten Verfahrensweisen ihres Spionierens im Verbund der Allianz. In Fragen der nationalen Sicherheit sind an die Stelle der Gefahr aus dem Osten neue Bedrohungen getreten, die Sicherheit Amerikas und seiner Vorherrschaft über die Welt zuallererst, aber auch die aller anderen Mächte betreffend, die mit der Weltmacht gemeinsame imperialistische Sache machen und sich zum ‚Westen‘ rechnen: Den internationalen Terrorismus gilt es seit Nine-Eleven zu bekämpfen, mit vereinten Kräften selbstverständlich – und aus amerikanischer Sicht schließt die Vereinigung dieser Kräfte im Falle Deutschlands eben die Inanspruchnahme aller geheimdienstlichen Möglichkeiten ein, die man in der ganzen Republik auf- und ausgebaut hat. Die aus Berlin an seine Adresse gerichteten Beschwerden, die Geheimdienste unter seiner Kontrolle wären wohl zu weit gegangen, weist der Präsident der Weltmacht daher offensiv zurück: Mit Verweis auf die „vielen Menschenleben“, die deren Machenschaften in Kooperation mit einheimischen Behörden in Deutschland „gerettet“ hätten, teilt er seinem geschätzten Partner unmissverständlich mit, dass auch zur Wahrung von dessen ureigenen Sicherheitsinteressen die Freiheiten einfach unabdingbar sind, die sich amerikanische Spione auf deutschem Boden herausnehmen.
Nicht vorbei nach dem Kalten Krieg ist also die politische Kumpanei, die die USA mit der BRD pflegen, nicht vorbei ist die Zusammenarbeit der Sicherheitsagenturen. Vorbei jedoch ist offenbar die Deckungsgleichheit der imperialistischen Interessenlagen, die über diese – im Vergleich zu den Zeiten des ‚Kalten Kriegs‘: schon erheblich geschrumpfte – Identität der Betroffenheit in Sicherheitsfragen hinausginge. Als Standort und Drehscheibe dafür erforderlicher Spionagetätigkeiten genießt Deutschland höchste Wertschätzung, darin aber geht die Rolle dieser Nation in der Wahrnehmung der USA überhaupt nicht auf, und dies hat seinen imperialistischen Grund. Als dieser feste Partner der USA – „unverbrüchliche Freundschaft“ nennt sich das hierzulande – betätigt sich die BRD seit einiger Zeit als Macht mit eigenen imperialistischen Interessen, insbesondere als Führungsmacht Europas. Diese Union europäischer Staaten konstituiert sich als nach außen abgeschotteter Block, der nicht nur gegen die führende Weltwirtschaftsmacht als Konkurrent antritt, sondern auch danach strebt, Amerika das Monopol der weltpolitischen Aufsichtsmacht streitig zu machen, und auch wenn in Bezug auf letzteres die USA bislang nicht viel zu befürchten haben: Der Partner Deutschland ist in der Konkurrenz um Geld und Macht in eigener Sache unterwegs, und das durchaus in einem auch der Weltmacht Respekt gebietenden Ausmaß, nämlich als Vormacht eines eigenen Staatenbündnisses mit eigenen Absichten. Für Amerika resultiert hieraus ganz natürlich das Bedürfnis, sich jene „Erkenntnisse“ zu verschaffen, auf die sich Geheimdienste verstehen, also in Erfahrung zu bringen, wer in Europa mit wem oder auch gegen wen welches politische Programm verfolgt, was da wirtschaftlich wie weltpolitisch unterwegs ist und Amerikas Interessen tangiert. Denn woran man mit Europa ist: Das weiß man in Washington auch ohne Spione. Was man mit ihnen zusätzlich herausfinden will, betrifft den dem eigenen politischen Interesse dienlichen Umgang mit dem machtvollen Konkurrenten: Möglichst vor dem Eklat von Streitfragen, die sich im Verkehr der konkurrierenden Mächte unweigerlich ergeben, möchte man Bescheid wissen über die Stärken und Schwächen des Konkurrenten, darüber also, was man in Bezug auf erstere in Rechnung zu stellen hat, was man hinsichtlich letzterer zur Beförderung des eigenen Vorteils ausnutzen oder zur Androhung eines empfindlichen Schadens der Gegenseite und derart zu deren wirksamer Erpressung verwenden kann. Deswegen gesellt sich zur Kooperation Amerikas mit dem deutschen Partner in allen maßgeblichen geheimdienstlichen Belangen auch dessen einseitiges Ausspionieren: Zusätzlich zu allen eingerichteten Verhältnissen, in denen in bewährter Manier deutsche Behörden aus eigenem Antrieb oder auf Weisung ihrer amerikanischen Kollegen ihre Zulieferdienste für die Wahrung der gemeinsamen Sicherheitsinteressen verrichten, nehmen sich die USA die Freiheit, ihren geheimdienstlichen Apparat auch zum Ausspähen der Entscheidungsprozesse zu nutzen, die in den Schaltzentralen der Macht in Berlin und Brüssel laufen. Dieser Wissensdurst umfasst neben vielem anderen, was in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, selbstverständlich auch alles, was die deutsche Kanzlerin via Telefon für mitteilenswert hält – privat wie politisch, weil sich bei Frau Merkel beides ohnehin nicht voneinander trennen lässt: Da ist immer die höchste Amtsperson des Landes in der Leitung…
Die Beschwerden, die sich gegen diese geheimdienstlichen Praktiken der USA in Deutschland regen, werden in Washington zur Kenntnis genommen. Die Reaktionen dort schwanken einerseits zwischen demonstrativer Gleichgültigkeit und Versuchen zur Beschwichtigung – Obama höchstselbst verspricht sich darum zu kümmern, dass seine NSA ab demnächst wirklich nur tut, wozu er sie kommandiert –; andererseits machen sie mindestens ebenso demonstrativ deutlich, dass die USA keinesfalls gewillt sind, auch nur irgendwie abzurücken von der Praxis ihrer Sicherheitsbehörden. Die deutsche Kanzlerin macht aus Informationen des Whistleblowers Snowden einen Skandal und sieht die Grundlagen des „Vertrauensverhältnisses“ zwischen sich und dem Partner im transatlantischen Verhältnis angegriffen – und der betreffende Partner stellt klar, dass für ihn nicht die Informationen, sondern der Informant der Skandal ist, gegen den es vorzugehen gilt. „WANTED Edward Snowden“ heißt es auf dem Steckbrief des FBI, und eben dies, den Vaterlandsverräter und Großverbrecher in Sachen nationaler Sicherheit in die Finger zu kriegen und ihn dann nach allen Regeln der rechtsstaatlichen Kunst zu vergasen oder zu einer Freiheitsstrafe zwischen 120 und 1200 Jahren zu verurteilen: Nur das und nicht die Überwachung von Merkels Telefon steht für die USA an oberster Stelle der Prioritätenliste, die es in der Affäre um ihre NSA abzuarbeiten gilt. Vor ihrem nationalen Recht fordern sie weltweit Respekt, also für sich als die Instanz, die dieses Recht setzt, die Anerkennung als obersten Marshal, der alle anderen Staaten zu Hilfssheriffs seiner Strafverfolgung degradiert und insbesondere von denen, mit denen er ohnehin schon „eng kooperiert“, Beihilfe erwartet: das ist die schon sehr souveräne Replik der Führungsmacht auf die Beschwerde seitens ihres vom Vasallen zum Konkurrenten aufgestiegenen Partners, beim Spionieren die Grenzen des „Vertrauens“ überschritten zu haben.

2.

Komplementär zu den USA stellt sich die BRD nach dem Ende des Kalten Krieges auf. Die im Kampf gegen den Ostblock gestählte transatlantische Partnerschaft wird auch vom wiedervereinigten und endlich komplett souveränen Deutschland gepflegt und ausgebaut, in welchem Ausmaß, ist in Gestalt der militärischen und geheimdienstlichen Kooperation der beiden Mächte zu besichtigen. Teils als Erbe des glorreichen Ost-West-Konflikts, teils neu zugezogen, gehen 43?000 US-Soldaten, Tausende Diplomaten, davon 900 im Frankfurter Generalkonsulat, sowie eine Dunkelziffer von Geheimagenten einer geregelten Arbeit im Staatsdienst nach. Drei Milliarden Dollar pro Jahr stehen im US-Haushalt für Militärausgaben in der BRD, das ist Platz 2 hinter Afghanistan. Von Stuttgart und Ramstein starten die USA Drohnen-Einsätze in Afrika. Teils als Erbe des NATO-Statuts, teils neu vereinbart, erteilt Deutschland die Konzession für Kriege gegen staatliche wie nichtstaatliche Feinde des zivilisierten Abendlandes und liefert dazu auch eigene Beiträge. Deutschland ist Knotenpunkt für grenzüberschreitendes Spionieren gegen den Rest der Welt, nicht hinter dem Rücken deutscher Regierungen, sondern von ihnen geduldet und gewollt unterhalten die US-Dienste beim deutschen Partner ihre autonomen Zweigniederlassungen und führen sich die deutschen Dienste ihrerseits wie Filialen der US-Behörden auf. Näheres ist den veröffentlichten Dossiers von SZ und NDR zu entnehmen. In Sachen Zusammenarbeit, also in der Praxis des Zulieferns, des Einräumens rechtlicher Freiheiten und auch bei der tätigen Mitwirkung im Kampf gegen den Terror passt die BRD sich nahtlos in das US-Sicherheitskonzept ein. Sie entspricht dem Antrag, die gemeinsame Sache aus 40 Jahre Kaltem Krieg ungebrochen fortzuführen und fortzuentwickeln. In dieser Sonderbeziehung ist die Nation Teilhaber des Aufsichtsprogramms des Freien Westens über die Staatenwelt – und darf sich zu den größten Profiteuren der gemeinschaftlich ausgeübten Aufsicht rechnen: Alles, was Deutschland auf dem Globus vorhat und unternimmt, beruht auf einer Weltordnung, die von der konkurrenzlos überlegenen Militärmacht der NATO-Führungsnation USA gesichert wird. Die Unterordnung unter die amerikanische Vorherrschaft im NATO-Bündnis ist die Basis, von der aus Deutschland sich zur wirtschaftlichen Führungsmacht Europas und zum größten Exporteur des ganzen Globus aufschwingt. Das ist der politische Gehalt des Verweises auf die „herausragende strategische Bedeutung der deutsch-amerikanischen Partnerschaft“, den sich deutsche Regierungen notorisch schuldig sind.
Gerade weil diese Nation auf höchster Sicherheitsebene mit den USA kooperiert, die Sicherung der Weltordnung des westlichen Imperialismus Seite an Seite mit dessen Führungsmacht essentieller Bestandteil der deutschen Staatsräson ist, wertet sie das Bespitzeln ihrer politische Eliten als Missbrauch der partnerschaftlichen Kooperation mit Amerika, die sie tagtäglich unter Beweis stellt. Insofern bekräftigt der deutsche Einspruch gegen das Ausspionieren der Kanzlerin erst einmal nur die Rolle Deutschlands als weltpolitischer Kompagnon der USA, wenn es heißt, dass sich derartiges „unter Freunden“ nicht gehört: da liegt der Akzent des Satzes auf Freundschaft. Zugleich aber macht derselbe Einspruch deutlich, was es von deutscher Seite aus betrachtet mit dieser Freundschaft auch noch auf sich hat: Gerade auf Basis seiner sehr weitgehenden Kooperationswilligkeit möchte Deutschland von seinem Partner schon auch als Macht respektiert werden, die ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgt – und zwar ohne vorherige Absprache mit den USA und deren Wissen. Das ist der politische Inhalt des „Vertrauens“, das Amerika mit dem Abhören der Kanzlerin gebrochen haben soll: Moniert wird ein Übergriff auf die imperialistische Intimsphäre der europäischen Führungsmacht, ein Zugriff auf die verdeckten politischen Berechnungen und Bestrebungen Deutschlands, die man nicht zuletzt deswegen so gern vor seinem dicken Freund verborgen gehalten hätte, weil sie oft genug gegen dessen Interesse gerichtet sind. In den Beschwerden an die Adresse des befreundeten Partners wird so der Widerspruch deutlich, auf dem der deutsche Imperialismus beruht. Auf Basis des gemeinsamen Sicherheitsinteresses legt sich Deutschland auf unbedingte Kooperation mit Amerika fest und ordnet sich selbst der Führungsmacht unter – nicht offiziell, de facto aber schon. Darin aber geht die imperialistische Interessenlage dieser Nation nicht auf: Den Schutz der Weltmacht will sie um ihrer Autonomie willen haben, zur Verfolgung ihrer Interessen und Wahrnehmung ihrer Rechte, die allesamt auf die Emanzipation vom Status einer nachrangigen Bündnismacht berechnet sind. Also betreibt sie stets beides nebeneinander, die bedingungslose Freundschaft zu Amerika – und das Beharren auf einer wesentlichen Bedingung: Die Respektierung der eigenen imperialistischer Interessen, mit denen man sich von der Vormacht und ihren Vorgaben perspektivisch freizumachen sucht. Daher ist es auch konsequent, wenn man hierzulande aus einem Übergriff, den sich US-Behörden bei der Kooperation in Fragen der Staatssicherheit geleistet hätten, Schlussfolgerungen zieht, die ein ganz anderes Feld der Kooperation mit Amerika betreffen. Der Verdacht von „Wirtschafts-Spionage“ macht die Runde, ein „Stopp der Gespräche über eine Freihandelszone“ wird vom deutschen Präsidenten des Europa-Parlaments erwogen, und beides dokumentiert nur, dass die Konkurrenz gegen den Partner die andere Seite der unverbrüchlichen Freundschaft ist, die man sicherheitspolitisch mit ihm pflegt.
Entsprechend widersprüchlich geraten auch die Konsequenzen, die man aus der NSA-Affäre hierzulande zu ziehen gedenkt. Den Auftakt bildet das höchst offizielle und immer wieder von neuem abgelegte Bekenntnis dazu, dass in Deutschland selbstverständlich keiner auch nur irgendwie daran denkt, die Zusammenarbeit mit Amerika auf dem Gebiet der Staatssicherheit zu kündigen – eingeschlossen die dort ganz im Dunkeln oder in rechtlichen Grauzonen wirkenden Dienste und Behörden. Freilich: „Die Vorwürfe sind gravierend. Sie müssen aufgeklärt werden. Wichtiger noch: Für die Zukunft muss neues Vertrauen aufgebaut werden.“ (Merkel im Bundestag, 18.11.) Also werden unter dem Kapitel „Datenschutz und Transparenz“ Vorschläge ausgearbeitet, die dann schon deutlich machen, dass man mit seinem unbedingten Willen zur Kooperation mit der Führungsmacht doch sehr an der fortdauernden Unterordnung unter sie leidet. Man sucht eine „Grundlage für Kooperation, die dem Charakter von Bündnispartnern entspricht“ (Merkel), tastet sich an „Modelle“ heran, die Deutschland in seinem Verhältnis zur Führungsmacht aufwerten, seinem Anspruch, „auf Augenhöhe“ mit der Führungsmacht zu verkehren, gerecht werden könnten. Nicht schlechter möchte man behandelt werden als der spezielle Verbündete Großbritannien. Ins Gespräch kommt sogar eine Mitgliedschaft im erlauchten Club der ‚Five Eyes‘, die sich einander fest versprechen, voreinander keine Geheimnisse zu haben, und sich das Versprechen auch noch wechselseitig abnehmen und aufs Spionieren gegeneinander verzichten. Aber den förmlichen Antrag auf Mitgliedschaft im Club stellt man dann doch nicht und kümmert sich statt dessen um näherliegende Alternativen im Sinne einer von Amerika anerkannten Autonomie der wiedervereinigten Nation. An die Stelle der Freiheit, die sich Amerika mit den Operationen seiner Dienste einseitig herausnimmt, sollte vertraglich geregelte Wechselseitigkeit gleichberechtigter Partner auch auf diesem Feld Einzug halten, etwa in Form einer bilateralen „verbindlichen No-Spy-Zusage“ der USA. Bei all diesen und ähnlichen Anläufen, im Zusammenarbeiten mit den USA den Status der Nachrangigkeit loszuwerden, setzt Deutschland freilich nicht allein auf den guten Willen der Führungsmacht. Die Nation treibt die Emanzipation zur autonomen Macht weiter voran, zu der sie es als Führungsmacht Europas schon gebracht hat, und drängt danach, sich die Mittel zu verschaffen, die im Verhältnis zu Amerika für etwas mehr Gleichgewicht sorgen könnten: Ein „Cyber-Security-Gipfel“ unter Vorsitz der Deutschen Telekom und des Chefs der Münchner Sicherheitskonferenz erörtert Alternativen zur Abhängigkeit von US-Servern, etwa in Gestalt eines „Europäischen Internets“ oder einer „Schengen-Cloud“, und mit dem Ausbau des EU-Satellitennavigations-Systems ‚Galileo‘ geht es den verantwortlichen Kommissionen in Brüssel viel zu langsam voran. Und selbstverständlich sind nach deutscher Lesart all diese Projekte, Amerikas Monopolstellung bei der Bereitstellung wie bei der Kontrolle des globalen Datenverkehrs ein wenig zu unterminieren, eines nie und nimmer: Die Kündigung der Zusammenarbeit mit dem großen Freund und Partner wird auch nicht im entferntesten erwogen…

3.

Wie es sich für eine Demokratie gehört, verteilen sich die zwei Seiten des Widerspruchs – Kooperation mit eingebauter Unterordnung einerseits und damit bezweckter autonomer Machtentfaltung andererseits – auf Regierung und Opposition; wenn auch nicht ganz trennscharf, weil mit pro- wie anti-amerikanischen Voten an den „Rändern“ beider Lager Werbung für die eigene Seite gemacht wird. Die Regierung – die noch amtierende wie die nächste – praktiziert diesen Widerspruch und will ihn aufrechterhalten, indem sie den Vorteil für Deutschland unterstreicht, den sie mit ihrer Politik sichert. Die Opposition problematisiert die Nachteile, die aus dieser Politik der Regierung für die Nation erwachsen, und nicht zufällig wird der Dialog zwischen beiden Lagern an der Person Snowden ausgetragen: Am Whistleblower sucht Amerika seinen Rechtsstandpunkt zur international verbindlichen Rechtslage zu machen, also entzündet sich an ihm auch die heiße Frage, wie das souveräne Deutschland es in diesem Fall zu halten gedenkt mit der schwierigen Gratwanderung zwischen Respekt vor der Weltmacht und der Unterordnung unter ihr Diktat auf der einen und autonomer Machtbehauptung auf der anderen Seite.
Dem Mann in Deutschland Asyl zu gewähren, schließt man im Lager der Regierung kategorisch aus: Das wäre eine Brüskierung des Partners, die man sich auf gar keinen Fall leisten will. Ihn irgendwo im Ausland zu befragen und sich aus erster Hand die Erkenntnisse zu verschaffen, die man von den Behörden in den USA einfach nicht überreicht bekommt: Das zieht man unter Umständen schon in Betracht. Das wäre immerhin eine, wenn auch eine kleine, Dokumentation von Souveränität bei der Wahrnehmung eigener Sicherheitsbelange, und läge, ein weiterer Vorteil, noch weit unterhalb der Schwelle des Übergangs zum Anti-Amerikanismus, der sich auf gar keinen Fall gehört.
Die Opposition stochert in demselben Dilemma herum und kommt zum entgegengesetzten Ergebnis. Die Linkspartei outet sich als Lordsiegelbewahrer echter deutscher Souveränität: „Deutschland ist erst dann souverän, wenn es Snowden anhört, ihm Asyl gibt und seinen Schutz gewährt“ (Gysi), Ströbele von den Grünen besucht demonstrativ den Whistleblower in Moskau und fordert von der Kanzlerin wenigstens ein symbolisches Zeichen deutschen Selbstbewusstseins gegenüber Amerika – „‚Frau Bundeskanzlerin‘, fragt der Grünen-Politiker, ‚haben Sie mal darüber nachgedacht, sich bei Edward Snowden zu bedanken?‘ Merkel bleibt still. ‚Sind Sie überhaupt nicht dankbar? fragt Ströbele weiter. ‚Es wäre eine menschliche Geste.‘ Merkel bleibt still. ‚Ich hatte etwas anderes von Ihnen erwartet!‘“ (Aus: Die Welt)
Beide Lager übergreifend warnen die einen deutschen Patrioten vor zu viel Anti-Amerikanismus, weil sie die Gefahr der „Entfremdung“ von dem Partner befürchten, an dessen Potenzen Deutschland so erfolgreich schmarotzt. Die anderen Patrioten stehen eher auf dem Standpunkt, dass die Macht Deutschlands groß genug ist, um gegenüber Amerika wenigstens ein Zeichen eigener Machtvollkommenheit zu setzen. Derart teilen sie sich anlässlich dieses Falls ein bei der Abschätzung von unbedingt für nötig befundenen Wirkungen und unerwünschten Nebenwirkungen der Behauptung deutscher Souveränität gegenüber Amerika. Und was den Anlass ihrer schönen Kontroversen betrifft, sind sie sich im Grundsatz so einig wie die Geheimdienste beider Mächte: Die machen bei ihrer Kooperation genau so weiter wie bisher – und daran ernsthaft zu rühren haben auch die parlamentarischen Großschauspieler nicht vor, die das nationalistische Ressentiment gegenüber der Supermacht mobilisieren.
1) Siehe: „Edward Snowden enthüllt die Dimension der Überwachung des Globus durch US-Geheimdienste: Böse Wahrheiten über die hochgelobte Freiheit – und ihre demokratische Bewältigung“ (GegenStandpunkt 3-13).


© GegenStandpunkt Verlag 2013